Nicht länger mehr Bob Dylans Nichte

Wie große Label Musik zerstören: Mit dem Album, das es nicht geben darf, kommt Michelle Shocked auf die Tour, die nicht sein sollte  ■ Von Johannes Waechter

Michelle Shocked hat drei Jahre lang geschwiegen. Kein neues Album, keine Konzerte in Europa, keine Pressekommuniqués, keine MTV-Auftritte, keine gut plazierten Interviews oder gut getimte Wiederveröffentlichungen. Nichts. Nun sind drei Jahre keine Ewigkeit, doch da Michelle Shocked immer eine produktive und sehr mitteilsame Künstlerin war, da sie außerdem anläßlich der Veröffentlichung ihres letzten Albums „Arkansas Traveller“ (1992) schon eifrig Zukunftspläne geschmiedet hatte, die keineswegs eine ausgedehnte Schaffenspause vorsahen, gab die sie umgebende Informationsfinsternis berechtigten Anlaß zur Verwunderung. Was war bloß los?

Vor einigen Monaten verbreiteten sich dann endlich Gerüchte, die zwar unglaublich schienen, die Stille von und um Michelle Shocked jedoch zumindest plausibel erklären konnten: Sie hätte Probleme mit ihrer Plattenfirma Mercury, hätte deshalb ihre neue Platte selbst herausgebraucht – quasi als eigenes Bootleg – und sei daraufhin von ihrem Label mit einem Bannfluch gestraft worden. In etwa so wie Neil Young, der Ende der Achtziger von David Geffen verklagt wurde, weil die Platten, die er auf Geffen Records veröffentlichte, dem Chef „zu unkommerziell“ waren.

Anläßlich ihrer bevorstehenden Tour hat Michelle Shocked sich nun im Gespräch mit der taz erklärt. Das ominöse Geheimalbum gibt es tatsächlich – es heißt „Kind Hearted Woman“, ist in einer von Michelle handnumerierten Auflage von 15.000 erschienen und wird ausschließlich auf ihren Konzerten verkauft –, und auch die anderen Schauergeschichten, die ebensogut dem reichen Fundus an Anti-Major-Label-Folklore hätten entspringen können, stimmen größtenteils. Ohne daß man es hierzulande bemerkt hätte, hat Michelle Shocked in den letzten Jahren mit der Kraft der Verzweiflung um ihre künstlerische Daseinsberechtigung kämpfen müssen – und nur knapp gesiegt.

„Von Anfang an hat meine Plattenfirma von mir verlangt, daß ich mein akustisches Album ,Short Sharp Shocked‘ immer wieder neu aufnehme“, erklärt Shocked die Lage. „Die dachten, sie hätten ein nettes Mädchen eingekauft, das akustische Gitarre spielt und Balladen singt, weil sie Woody Guthries Enkelin oder Bob Dylans Nichte sein will. Die haben nie verstanden, daß ich mehr will, als nur eine einmal erfolgreiche Formel zu wiederholen.“ Auf den zwei Alben „Captain Swing“ und „Arkansas Traveller“ hat Shocked ihre künstlerischen Vorstellungen noch durchsetzen können. „Doch als ich nach ,Arkansas Traveller‘ mein nächstes Album aufnehmen wollte, das Konzept stand schon, hat sich die Firma geweigert, mir Studiozeit zur Verfügung zu stellen, was dem Vertrag nach eine ihrer wichtigsten Aufgaben ist. Mein Vertrag sichert mir totale künstlerische Freiheit zu, und mit ihrer Weigerung, Studiozeit zu kaufen, hat die Firma den Vertrag offensichtlich gebrochen. Trotzdem konnte ich dagegen erst mal nichts machen, da die Firma mich nicht aus dem Vertrag entlassen hat. Ich war plötzlich auf mich alleine gestellt. Mir blieb nur ein starker Überlebenswille, deshalb habe ich die Sache dann selbst in die Hand genommen.“

„Kind Hearted Woman“ reflektiert den komplizierten Schwebezustand, in dem sich Shocked momentan befindet, auf vielfältige Weise. Da auf eigene Kosten aufgenommen, ist das Album eine sehr sparsame Produktion: Shocked singt ihre Songs und begleitet sich auf der E-Gitarre, über gelegentliche Gitarren-Overdubs gehen die Arrangements nicht hinaus. Der Sound der Gitarren ist schwer und getragen; „Kind Hearted Woman“ hat nichts von der ungestümen Leichtigkeit, mit der Shocked auf ihren letzten beiden Alben zu Werke ging, nichts von dem in Selbstbewußtsein, Ambition und Ehrlichkeit begründeten Wagemut, der es ihr möglich machte, sich Dutzende verschiedener amerikanischer Musiktraditionen anzueignen, um sie dann mit ihrem eigenen Ausdruck zu verschränken.

Im neuen Album schwingt das Drama ihrer Geschäftsbeziehungen als reifer, teils kämpferischer, teils verbitterter Grundton mit, und auch die Songs interpretiert man unwillkürlich unter diesem Gesichtspunkt, obwohl Shocked sagt, daß die meisten der getragenen Lieder mit Titeln wie „Homestead“, „Cold Comfort“ und „Hard Way“ vor der fatalen Zuspitzung der Materie entstanden sind. Sie erzählen Geschichten aus dem ländlichen Amerika, knapp und klar und doch auf eine Weise, die an Faulkners mystischen Realismus erinnert: Stillstand, Resignation, Kampf mit dem Leben. Das Fieber bricht aus. Und immer noch kein Anzeichen von Regen.

Wegen der sparsamen Produktion ist es auf „Kind Hearted Woman“ nicht ganz so deutlich wie auf den vorhergehenden Alben, doch in der Art, wie die Songs in der Erfahrung geerdet sind und auch in dem an den Country-Blues-Sound erinnernden Gitarrenspiel bricht sich erneut Michelle Shockeds Verständnis von Tradition Bahn, ein Verständnis, das in der heutigen Popwelt ziemlich einzigartig dasteht. Sie sieht die Tradition weder als heiliges Vorbild, das möglichst originalgetreu abgeformt werden muß, um an der Weisheit der Meister teilzuhaben, noch als Plantage, aus der man nach Belieben dieses oder jenes Gewächs ernten kann, um der eigenen Speise die rechte Würze zu verleihen. Ihrer Meinung nach ist die Tradition nicht von der Gegenwart zu trennen. Beide sind Teil eines kulturellen Kontinuums, in dem auch die neueste, originellste Form von mächtigen Spuren des Vorangegangenen durchzogen ist. Zur Frage wird dann vor allem, inwieweit der individuelle Künstler in der Lage ist, sich diese Situation zunutze zu machen.

„Die Popmusik hat sich immer als Teil des Modernismus verstanden, ohne dessen Ideologie zu hinterfragen“, erklärt sie ihre Position. „Ich verstehe die Ideologie des Modernismus so, daß behauptet wird: Alles, was jetzt existiert, existierte noch nie zuvor. Wir erfinden alles neu. Ich folge dieser Ideologie nicht. Ich nehme zwar jede Möglichkeit wahr, Musik zu schaffen, die noch nie dagewesen ist, doch gleichzeitig bin ich mir der Traditionslinien bewußt, die durch die Musik laufen. Das wird dann häufig Folk genannt, damit man sich nicht mit der Subtilität dieser Vorgänge beschäftigen muß.“

Eine zweite, stärker instrumentierte Version von „Kind Hearted Woman“ – eine Version, die das traditionelle Beziehungsgeflecht des Albums fühlbarer macht – ist schon aufgenommen. Doch wird sie je erscheinen? „Ich glaube schon“, meint Michelle Shocked zuversichtlich. „Ich denke, daß die Plattenfirma bald erkennen wird, daß sie den Vertrag gebrochen hat und sich deswegen mit mir einigen muß.“ Sicher ist sie sich allerdings nicht. Mit abgeschmackten Auslegungen der Phantombeziehung zwischen Kunst und Geschäft haben Plattenfirmen schließlich schon so manche gutherzige Frau und manchen gutherzigen Mann gebrochen.

Tour: 2.7. Berlin, 3.7. Ulm, 4.7. Schorndorf, 5.7. München, 6.7. Essen, 7.7. Rudolfstadt, 26.7. Hamburg, 27.7. Lörrach, 28.7. Nürnberg