Judo-Politik

Über die Entstehung supranationaler Öffentlichkeiten und die Chancen der Subpolitik, über Greenpeace als Agentur des inszenierten Konflikts und die neue Wichtigkeit politischer Symbole anhand der Affäre „Brent Spar“  ■ Von Ulrich Beck

Die Hauptgegner von Shell (oder allgemeiner: der chemischen, genetischen, atomaren usw. Gefahrenindustrien) sind nicht die mutigen Aktivisten von Greenpeace, auch nicht die „kritischen“ Benzinkonsumenten, die endlich einmal ihr schlechtes Umweltgewissen mit „moralischem Benzin“ an den Tanksäulen der Konkurrenz besänftigen konnten, auch nicht die kritische Öffentlichkeit, die Massenmedien, die dieses Schurken-Drama live in allen Wohnzimmern aufführten; trotz aller Wichtigkeit und Unverzichtbarkeit dieser Akteure, der überzeugendste und ausdauerndste Gegner von Shell war und ist – Shell selbst.

Das Shell-Management hat auf eine geradezu geniale Weise mit dem besten Gewissen und der Großmacht eines Ölmultis falsch gemacht, was es nur falsch machen konnte. Daß dies kein Ausrutscher, sondern symptomatisch ist, darauf gründet die Resthoffnung in dieser suizidalen Welt. Denn wichtig ist: Shell hat alles richtig gemacht – nach seinen immanenten Rationalitätskriterien – und deshalb fast erbarmungswürdig falsch gehandelt. Dies gilt es zu verstehen, zu entschlüsseln, weil daran, wie an einem Bilderbuchbeispiel, die Transformation des Politischen in der Weltrisikogesellschaft faßbar, erfahrbar wird.

Was unterscheidet die Risiken der Industrieepoche von den Gefahren der Weltrisikogesellschaft? Diese sind nicht eingrenzbar, weder räumlich noch zeitlich noch sozial. Sie übergreifen Nationalstaaten ebenso wie Klassen oder militärische Bündnissysteme und stellen die Institutionen ihrer Kontrolle aufgrund ihres Zuschnitts vor völlig neuartige Herausforderungen. Die etablierten Regeln der Zurechnung und Verantwortung – Kausalität und Schuld – versagen. Das heißt, deren unverdrossene Anwendung in Verwaltung, Management und Rechtsprechung bewirkt das Gegenteil: Die Gefahren wachsen durch ihre Anonymisierung. Genau dies meint der Begriff organisierte Unverantwortlichkeit.

Das Unpolitische wird das Politische

Verwaltung, Politik, Industriemanagement und Forschung handeln aus, was nach ihren immanenten Rationalitäts- und Sicherheitskriterien „rational und sicher“ ist – mit der Folge: Die Flüsse, Meere, Arten sterben, das Ozonloch wächst, Allergien werden zur Massenkrankheit usw. Der Funken, den Greenpeace auf und mit der Bohrinsel zum Zünden gebracht hat, setzt also die politische Explosivität von Gefahren voraus, die im Legitimationszirkel von Verwaltung, Politik, Recht und Management permanent normalisiert werden und daher ins unkontrollierbar Globale wachsen.

Um es mit und gegen Max Weber zu formulieren: Die zweckrationale Bürokratie verwandelt Alltäterschaft in Freispruch – und gefährdet damit die Grundlagen ihres Rationalitäts- und Kontrollanspruchs. Die sogenannte Umweltkrise ist also gerade keine Umweltkrise, sie ist durch und durch eine immanente Grundlagenkrise der industriegesellschaftlichen Institutionen. Es sind genau die Hüter von Wohlstand, Recht und Ordnung, die unter den Dauerverdacht geraten, Gefahren in die Welt zu setzen und zu verharmlosen, die im Grenzfall alles Leben bedrohen.

Es gab einmal eine Zeit – das frühkapitalistische Unternehmer- paradies –, da konnte die Industrie Projekte starten, ohne sich besonderen Kontrollen und Absprachen zu unterwerfen. Dann kam die Periode des staatlich normierten Wirtschaftens, in der dies nur im Rahmen des Arbeitsrechts, von Sicherheitsverordnungen, Tarifvereinbarungen usw. möglich war. In der Risikogesellschaft, dies ist eine einschneidende Veränderung, kann man alle diese Instanzen und Normen einbeziehen und die so getroffenen Vereinbarungen halten, und doch stiftet dies keine Sicherheit mehr. Gerade das normenkonforme Management kann plötzlich an den Pranger der Öffentlichkeit gebunden und als „Umweltschwein“ gegeißelt werden. Die Normalreaktionen auf diese grundsätzliche Situation hergestellter Unsicherheit in den Kernzonen ökonomisch-rationalen Handelns und Steuerns sind das Abblocken der Zumutung, umzudenken, und die Verurteilung des trotzdem, sozusagen vertragsdiskonform ausbrechenden Proteststurms als „irrational“ und „hysterisch“. Daraus ergibt sich eine weitere Folge von Fehlern; im stolzen Gefühl, die überlegene Ratio in einem Meer des Irrationalen zu repräsentieren, tappt man in die Falle schwer beherrschbarer Risikokonflikte.

Ein Kardinalfehler von Shell war es, auf die alte „Fortschrittskoalition“ zwischen Verwaltung, Staat, Wirtschaft und Wissenschaft zu setzen. Denn es ist genau diese Koalition, die in dem Maße, in dem das Gefahrenbewußtsein allgemein und alltäglich wird, zerbricht, weil die Industrie zwar Produktivität steigert, zugleich aber die Legitimität aufs Spiel setzt. Die Rechtsordnung stiftet keinen sozialen Frieden mehr, weil sie mit den Gefahren auch die Lebensbedrohungen verallgemeinert und legitimiert. Infolgedessen kommt es zu einer Umkehrung von Politik und Nichtpolitik: Das Politische wird unpolitisch und das Unpolitische politisch. Die Stunde der Subpolitik schlägt.

Dies gilt für den Multi Greenpeace, dem es zum ersten Mal gelungen ist, aus dem außerparlamentarischen Raum heraus durch gezielte Regelverletzungen mit der Unterstützung einer massenmedial mobilisierten Öffentlichkeit in einer zentralen Umweltfrage einen Weltkonzern in die Knie zu zwingen. Es gilt zunächst aber auch für die Wirtschaft selbst. In der Weltrisikogesellschaft werden Industrieprojekte zu einer politischen Unternehmung in dem Sinne, daß hohe Investitionen dauerhaften Konsens voraussetzen, dieser aber mit den alten Routinen einfacher Modernisierung nicht mehr gewährleistet, sondern gefährdet wird. Was bisher in Form von „Sachzwängen“ hinter verschlossenen Türen ausgehandelt und exekutiert werden konnte – zum Beispiel Müllprobleme, die Entsorgung der Brent Spar, aber auch Produktionsweise, Produktplanungen usw. –, muß nun dem Kreuzfeuer öffentlicher Kritik standhalten.

Der Bourgeois unter öffentlichem Druck

Unter dem öffentlichen Druck des Gefahrenbewußtseins kommt es zu einer neuartigen Symbiose von Wirtschaft und Politik: Der unpolitische Bourgeois der sozialstaatlich regulierten Wirtschaft wird zum „politischen Bourgeois“, der aktiv Vertrauen gewinnen, Konsens herstellen, sich also in der wirtschaftlichen Sphäre wie in einem Wahlkreis verhalten muß. Auch daher die neue Heiligkeit der Wirtschaft, die ökologischen Rosenkränze auf der Verpackung, das mönchische Gemurmel von Reinheit und ökologischer Jungfräulichkeit, wo doch jeder weiß, daß dies die käuflichste Liebe überhaupt ist.

Doch erst die öffentliche Nagelprobe offenbart die Schwäche der politischen Institutionen. Der politische Ort der Risikogesellschaft ist nicht die Straße, ihr politisches Subjekt ist nicht die Arbeiterschaft und ihre Organisation, nicht die Gewerkschaft. An diese Stelle tritt die gezielte, konfliktuelle Herstellung und massenmediale Inszenierung kultureller Symbole, an denen sich das angesammelte schlechte Gewissen der industriegesellschaftlichen Akteure und Konsumenten in einer Form entladen kann, welche die Weiter-so-Modernisierer dort trifft, wo es sie schmerzt: durch den Zusammenbruch von Märkten und Vertrauen. Diese Einschätzung kann von drei Seiten her beleuchtet und veranschaulicht werden:

In der abstrakten Allgegenwart von Gefahren sind erstens Zerstörung und Protest symbolisch vermittelt. Zweitens: Im Handeln gegen die ökologische Zerstörung ist jeder auch sein eigener Gegner. Drittens erzeugt, züchtet die ökologische Krise ein kulturelles Rotkreuz-Bewußtsein. Wer, wie Greenpeace, dieses auf seine Fahnen schreibt, exekutiert, wird in den ökologischen Adelsstand gehoben und mit einem fast grenzenlosen Blankoscheck auf Vertrauen belohnt. Was den Vorteil hat, daß im Zweifelsfall ihren und nicht den Informationen der Industrieakteure geglaubt wird.

Der Mensch ist ein in den „Wäldern von Symbolen“ (Baudelaire) verirrtes Kind. Dies gilt gerade in der Abstraktheit und Allgegenwart der Zerstörung, die der fortgeschrittene Gefahrenindustrialismus in Gang hält. Hier gewinnen erfahrbare Symbole, in denen kulturelle Nervenstränge berührt und alarmiert werden, eine politische Schlüsselbedeutung. Diese Symbole müssen hergestellt, geschmiedet werden, und zwar im offenen Feuer der Konfliktprovokation, vor den gespannt-entsetzten Fernsehaugen der Öffentlichkeit. Dies dürfte um so besser gelingen, je einfacher und eingängiger das inszenierte Symbol ist, je weniger Kosten das Protesthandeln der mobilisierten Öffentlichkeit für den einzelnen verursacht und je leichter jeder dadurch sein eigenes Gewissen entlasten kann.

Die Einfachheit des Symbols beruht darauf, daß in dem Handeln Shells jeder sich selbst auch gerade als Umweltsünder wiedererkennt. Allerdings mit dem wesentlichen Unterschied, daß hier nach dem Prinzip verfahren wird: Je größer die Gefährdung, desto wahrscheinlicher der präventive Freispruch. In der ökologisch aufgeweckten Alltagskultur verschärft sich der

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Widerspruch zwischen moralischem Anspruch und tasächlichem Handeln. Vielleicht ist es das herausragende Charakteristikum des ökologischen Konflikts, daß in diesem Abwehrkampf jeder vor allem sein eigener Gegner ist: Was der Kopf sagt, negieren die Hände. Die Risikogesellschaft ist eine Industriegesellschaft des schlechten Gewissens. Die Möglichkeit, sich zu entlasten, wird in dem Maße ergriffen, wie eine „gute Tat“ nicht wirklich etwas kostet. Der Protest gegen Shell konnte so ein ganz unwahrscheinliches Regenbogenbündnis aller Farbschattierungen werden, ein Bündnis der selbstkostenlosen „guten Tat“, die das Gewissen erleichtert. Dies trifft auf Helmut Kohl ebenso zu wie auf den Porsche-Fahrer, der bei Aral tankt. Während Kohl weiterhin ungerührt durch seine Hochgeschwindigkeitspolitik auf deutschen Autobahnen die Luft verpesten kann, braust der Porsche-Fahrer mit moralisch gutem Aral-Benzin über ebendiese Autobahn.

Wo Experten fehlen, sind Symbole wichtig

Die „einfache“ Symbolik muß, so wird hier deutlich, im Grenzfall ein Massenprotesthandeln der kostenlosen Alternativen ermöglichen, das zugleich die Trunkenheit eines guten Gewissens verschafft, während den öffentlich an den Pranger gestellten Großsündern Unkostenschmerzen in einer Größenordnung zugefügt werden, die ihnen den Atem rauben.

Nun ist immer wieder das Argument zu hören: Die Versenkung im Atlantik wäre letzten Endes weniger riskant gewesen als eine Entsorgung an Land. Aber in Risikofragen gibt es letztlich keine Experten, oder: Jeder ist Experte. Denn technische Kalküle allein können niemals die Frage beantworten, welche Belastungen noch, welche nicht mehr hinnehmbar sind. Sie bleiben eingebunden in kulturelle Wahrnehmungen und Wertungen, in leitende Symbole: „Le Waldsterben“, spotten die Franzosen und lustwandeln am Wochenende durch die zivilisatorischen Kathedralen ihrer Kernkraftwerke. Und die Engländer halten alles erst einmal für eine „europäische Hysterie“, um dann von Nachrichten über „vergiftete Frühstückseier“ wirklich schockiert zu sein.

Ökologische Gefahren, weit davon entfernt, eine allgemeine Sinnlosigkeit und Sinnleere der Moderne zu verschärfen, erschaffen einen Sinnhorizont des Vermeidens, Abwehrens, Helfens, ein mit der Größe der wahrgenommenen Gefahr sich verschärfendes moralisches Klima, in dem die dramatischen Rollen von Heroen und Schurken eine neue politische Bedeutung bekommen. Die Wahrnehmung der Welt in den Koordinaten ökologisch-industrieller Selbstgefährdung läßt Moral, Religion, Fundamentalismus, Aussichtslosigkeit, Tragik und Tragikomödie – verflochten immer mit dem Gegenteil: Rettung, Hilfe, Befreiung – zu einem Universaldrama werden. Der Wirtschaft steht es frei, in diesem Real- und Dauerdrama entweder die Rolle des Giftmischers zu übernehmen oder aber in die des Helden und Helfers zu schlüpfen. Genau dies ist der Hintergrund, vor dem es Greenpeace gelingt, sich mit Listen der Ohnmacht in Szene zu setzen. Greenpeace verfolgt eine Art Judo-Politik, die das Ziel hat, die Übermacht der Umweltsünder gegen diese selbst zu mobilisieren.

Wie wird dies möglich? Gefahren haben im Sicherheitsbedürfnis und Kontrollanspruch der westlichen Moderne neben ihrer biologisch-physikalischen auch eine soziale Explosivität. Diese hat ihr Zentrum im (Nicht)handeln von Organisationen, in der Industrie, in der Verwaltung, in der Politik. Sie ist kein naturwissenschaftlich zu entschlüsselnder Prozeß, läßt sich entsprechend nicht in Vergiftungsformeln und -szenarien beschreiben und messen. In ihr „explodieren“ – wenn diese Metapher erlaubt ist – Zuständigkeiten, Rationalitätsansprüche, Vertrauen, Märkte durch Wirklichkeitsberührungen. Denn das Offenlegen der Gefahr fällt zusammen mit dem Eingeständnis, daß alle, die bisher recht hatten, alle Institutionen eingeschlossen, sich geirrt und somit mindestens grob fahrlässig gehandelt haben. „Wir wollen uns ändern“, titelte Shell vor wenigen Tagen in ganzseitigen Anzeigen.

Die Greenpeace-Leute sind Profis, die mit aktionistischem Gespür und Geschick Fallen des Selbstwiderspruchs zwischen Verkündung und Verletzung von Sicherheits- und Kontrollnormen aufstellen und zum Zuschnappen bringen. Greenpeace ist eine politische Symbolschmiede. Hier werden mit den Kunstmitteln des inszenierten Konflikts kulturelle Sünden- und Sündersymbole erschlossen beziehungsweise geschaffen, die die Proteste bündeln und zum Blitzableiter des kollektiv schlechten Gewissens werden können. Das Novum des Shell-„Falles“ ist wohl, daß hier zum ersten Mal Umrisse einer nicht mehr nationalen, sondern europäischen Öffentlichkeit sichtbar werden. Dem multinationalen Konzern steht ein transnationaler Pfiffikus der Subpolitik gegenüber: Greenpeace.

Mit dem Bewußtwerden der Gefahren wird die Risikogesellschaft selbstkritisch. Ihre Grundlagen, Koordinaten und vorgestanzten Koalitionen geraten in Bewegung. Das Politische bricht jenseits der formalen Zuständigkeiten und Hierarchien auf und aus. Also: Wir suchen das Politische am falschen Ort, mit den falschen Begriffen, in den falschen Etagen, auf den falschen Seiten der Tageszeitungen. Genau die Entscheidungsbereiche, die im Modell des Industriekapitalismus im Windschatten des Politischen liegen – Wirtschaft, Verwaltung, Wissenschaft, Privatheit –, geraten in der reflexiven Risikomoderne in die Stürme politischer Auseinandersetzung. Wer verstehen will, warum, muß nach der kulturell-politischen Bedeutung erzeugter Gefahren fragen.

Auch die Gefahr ist entäußerte, gebündelte Subjektivität und Geschichte. Sie ist eine Art kollektive Zwangserinnerung daran, daß in dem, dem wir uns ausgesetzt sehen, unsere Entscheidungen und Fehler stecken. Ökologische Gefahren sind die Verkörperung der Irrtümer einer ganze Epoche des Industrialismus, sie sind eine Art kollektive Wiederkehr des Verdrängten. In deren bewußter Durchdringung liegt vielleicht die Chance, den Bann des industriellen Fatalismus zu brechen. Wenn jemand eine Maschine bauen wollte zur Aufhebung der Maschine, müßte er den Bauplan der ökologischen Selbstgefährdung verwenden. Sie ist die Verdinglichung, die nach ihrer Aufhebung schreit. Wie gesagt: Der wirkungsvollste Gegner von Shell ist Shell selbst.

Ulrich Beck lehrt Soziologie an der Universität München. Im Suhrkamp Verlag erschienen: „Risikogesellschaft“ (1986), „Die Erfindung des Politischen“ (1993).