Der Zorn des angelnden Philosophen

Jeff Tarango disqualifiziert sich selbst, seine Ehefrau Benedicte ohrfeigt Schiedsrichter Bruno Rebeuh, und Wimbledon wird überraschend oft aus seiner angestammten Beschaulichkeit gerissen /Korruptionsvorwürfe gegen den Referee  ■ Aus Wimbledon Matti Lieske

Es ist nicht länger von der Hand zu weisen: Die Sitten im Welttennis verrohen rapide. Und dies ausgerechnet in Wimbledon, dem Hort des untadeligen Benehmens, wo früher schon ein leises „Shit“ von John McEnroe für wochenlange Hyperventilation bei Publikum, Funktionären, Journalisten und in der „Royal Box“ sorgte. Der königlichen Schachtel blieb immerhin erspart, die diesjährigen Ungeheuerlichkeiten mitanzusehen, spielten sich diese doch auf Nebenplätzen ab. Erst war es der junge Brite Tim Henman, dem beim Doppel gelang, was er wenige Stunden zuvor gegen Pete Sampras meist vergeblich versucht hatte, nämlich den Ball voll zu treffen. Wutentbrannt jagte er einen Vorhandvolley übers Netz und streckte ein Ballmädchen nieder. Henman wurde disqualifiziert, ein Kunststück, das bei einem Grand- Slam-Turnier bis dahin nur John McEnroes Mundwerk 1990 in Melbourne und bei den diesjährigen French Open dem Münchner Carsten Arriens, dessen geworfener Schläger einen Linienrichter traf, geschafft hatten. „Hätte ich das getan, wäre ich ins Gefängnis gekommen“, war McEnroes trockener Kommentar zu Henmans Aktion.

Doch die war eine Lappalie im Vergleich zum Auftritt des Kaliforniers Jeff Tarango. Der 26jährige, der als Hobby Philosophie und Angeln angibt, auf dem Platz aber nicht unbedingt als kontemplativer Geist gilt, ging mitten in seinem Drittrundenmatch gegen den Deutschen Alexander Mronz beim Stande von 6:7, 1:2 einfach heim, während seine Frau Benedicte dablieb, um den Schiedsrichter zu verdreschen, was ihr in Ansätzen auch gelang. Zwei krasse Fehlentscheidungen des altgedienten Umpires Bruno Rebeuh waren es, die Tarango, der sich ohnehin von der ATP verfolgt fühlt, derart in Harnisch versetzten, daß ihn auch der herbeigerufene Supervisor nicht mehr besänftigen konnte. Mit einem knappen „That's it“ packte er seine Sachen und verließ den Platz, wodurch er sich automatisch selbst disqualifizierte. „Er hat sich in den Fuß geschossen“, kommentierte McEnroe wissend, „das gibt lange Ferien.“

Rebeuh hatte zuerst bei einem As Tarangos, das der Linienrichter erst aus und dann gut gab, auf Wiederholung entschieden, anstatt den Punkt dem Amerikaner zuzusprechen. „Ein klarer Regelverstoß“, so Mats Wilander. Anschließend forderten Zuschauer den protestierenden Tarango auf, gefälligst den Mund zu halten und weiterzuspielen, worauf dieser mit einem genervten „Oh, shut up“ reagierte. Der Schiedsrichter verpaßte ihm eine Verwarnung wegen „hörbarer Obszönität“, eine Entscheidung, die Tarango in seiner Annahme, daß es die Offiziellen, und dieser ganz besonders, auf ihn abgesehen haben, bestätigte. Er forderte eine Auswechslung des Schiedsrichters und brüllte, als der Supervisor dies ablehnte, Rebeuh plötzlich an: „Du bist der korrupteste Offizielle, den es im Tennis gibt.“ Dafür gab es eine weitere Verwarnung. Die dritte, die die Disqualifikation bedeutet hätte, wartete Tarango nicht mehr ab.

In der anschließenden Pressekonferenz wurde die ganze Sache noch hanebüchener, denn Tarango enthüllte die Hintergründe seiner Kontroverse mit Bruno Rebeuh. Im Oktober 1993 hatte er diesen nämlich bei der ATP angezeigt, als ihm zwei befreundete Frauen erzählt hatten, daß sich der französische Schiedsrichter damit gebrüstet habe, wie gut Freund er mit einigen Spielern, etwa Marc Rosset sei, weil er diesen „Matches geschenkt“ habe. Den Vorwürfen sei, so Tarango, „nicht sehr nachgegangen“ worden, doch man habe versprochen, Rebeuh nicht mehr bei seinen Spielen einzugesetzen. Warum dies in Wimbledon nun doch der Fall war, bleibt unklar. „Er hatte vor dem Match genügend Zeit, sich zu beschweren“, sagte Oberschiedsrichter Alan Mills, der erklärte, von Tarangos Anzeige gegen Rebeuh nichts gewußt zu haben, und persönlich auch nicht glaube, daß sie gerechtfertigt seien. Es werde jedoch eine genaue Untersuchung geben.

Daß Tarangos Vertrauen in eine derartige Investigation und in die ATP generell sehr begrenzt ist, machte er mehr als deutlich. Seit einer Weile bekomme er ständig Strafen aufgebrummt, beklagt er sich, und bei Verstößen, für die andere das Minimum zahlen müßten, verlange man von ihm stets das Maximum, so etwa die 25.000 Dollar, die er für das scherzhafte Herunterlassen seiner Shorts in Tokio gegen Michael Chang berappen mußte. „Sogar Chang hat gelächelt. Das ist verdammt schwer hinzukriegen“, erinnert sich Tarango an seinen live im japanischen TV übertragenen Striptease.

„Wir haben keine Spielervertreter mehr“, spricht er einen wunden Punkt im Männertennis an. Seit die alte Spielervertretung ATP selbst zum Manager der Tour geworden ist, gibt es tatsächlich niemanden mehr, der die Profis vertritt. Ihre einzige Möglichkeit ist, gegen Entscheidungen der ATP zu klagen. Bei den vielen kleineren Geldstrafen lohnt sich eine Klage jedoch kaum, „allein die Anwaltskosten sind höher“ (Tarango).

„Vielleicht sollte es tatsächlich eine neue Spielervertretung geben“, sagt Mats Wilander, in der alten ATP einst eifriger Kämpfer für die Belange der Profis, und fügt nicht ohne Sarkasmus hinzu: „Tarango soll es machen. Er scheint mir sehr geeignet.“