Vom Recht auf lokale Selbstverwaltung

■ Was die Europaratskonvention 1201 will – und was sie tatsächlich kann

Bukarest (taz) – Eine Zahl sorgt in der Slowakei, Ungarn und Rumänien für Aufruhr: die Zahl 1201. Seit Wochen schmückt sie die Titelseiten der Presse in den drei Ländern und löst heftige Debatten aus. Eine große ungarische Tageszeitung titelte deshalb kürzlich: „Die dämonische 1201“.

Befragt, was sich hinter der Zahl verberge, wüßten derzeit die meisten Slowaken, Ungarn und Rumänen die richtige Anwort: die „Empfehlung 1201 vom 1. Februar 1993“ des Europarates, ein Dokument des höchsten europäischen Menschenrechtsgremiums, betreffend nationale und ethnische Minderheiten. Doch wahrscheinlich könnten die wenigsten sagen, was in dem Dokument steht. So jedenfalls läßt es die aufgepeitschte und ideologisierte „1201-Diskussion“ vermuten.

Sie ist nur das neueste Kapitel im alten Streit zwischen Ungarn einerseits und der Slowakei und Rumänien andererseits. Ein Streit, in dem es um die 600.000 slowakischen und zwei Millionen rumänischen Ungarn geht. Während sie für sich Schutz und Verbesserung der Minderheitenrechte fordern und darin aus Budapest in gewissem Maße Rückendeckung erhalten, beschuldigen die Slowakei und Rumänien die zumeist in geschlossenen Gebieten lebenden Minderheiten-Ungarn des Separatismus, der von der jeweiligen ungarischen Regierung unterstützt werde.

Der Streit belastet nicht nur seit langem erheblich die bilateralen Beziehungen der drei Länder. Er wirkt sich auch negativ auf die von ihnen angestrebte europäische Integration aus, sehen die Nato und die Europäische Union hier doch eine der größten regionalen Konfliktquellen: Die insgesamt dreieinhalb Millionen Minderheiten- Ungarn in Ungarns Nachbarländern unterscheidet von anderen Minderheiten, daß sie nicht im Laufe einer allmählichen Nationalstaatenbildung, sondern über Nacht zur Minderheit wurden: Ursache war die von den machtpolitischen Kriterien der Siegermächte bestimmte Aufteilung Ungarns nach dem Ersten Weltkrieg.

Von Nato und Europäischer Union gewarnt, daß ohne eine friedliche und vertraglich festgelegte Beilegung der Konflikte zwischen den drei Ländern keine weitere Integration in ihre Strukturen zu erwarten sei, haben die Slowakei, Ungarn und Rumänien zwar den Weg der Aussöhnung beschritten. Streitpunkt blieben und bleiben jedoch die ungarischen Minderheiten.

Dabei schien im Grundlagenvertrag zwischen der Slowakei und Ungarn zunächst eine Lösung gefunden: jene „Empfehlung 1201“, auf deren Basis die Rechte der Minderheiten geregelt werden sollen. Artikel 11 der Empfehlung sichert den Minderheiten das Recht auf eine „lokale oder autonome Verwaltung“ zu, allerdings nur im Rahmen der im jeweiligen Land geltenden Gesetze. Präzisiert wird ebensowenig, über welche Kompetenzen eine derartige Minderheitenselbstverwaltung verfügt.

So brach der Streit um die Rechtswirksamkeit der Empfehlung und um einzelne Artikel denn auch schon während der Unterzeichnung des Vertrages Ende März dieses Jahres aus. Die slowakische Regierung erkennt das Recht auf eine Minderheitenselbstverwaltung nicht an, während Rumänien die Empfehlung im ganzen ablehnt, wobei die Regierungen beider Länder sich darauf berufen, daß die Empfehlung ihre internen Gesetze mißachte und ihre Staatlichkeit untergrabe. Die ungarische Regierung hingegen hält die Empfehlung 1201 für die Grundlage einer Konfliktlösung, während wiederum die ungarischen Minderheiten in der Slowakei und Rumänien sie lediglich als ein „Minimum“ betrachten, von dem aus sie weitere Rechte bis hin zu einer vollständigen Selbstverwaltung fordern.

Verkompliziert wird der Streit durch die in allen drei Länder offensichtlichen Mängel in der Minderheitenpolitik, auf die nun jede Seite hinweist. In der Slowakei besteht zwar ein Netz aus muttersprachlichen Bildungs- und Kulturinstitutionen, und Zweisprachigkeit wird auf lokaler Ebene offiziell praktiziert. Die Regierung in Bratislava hat jedoch immer wieder Versuche unternommen, dies einzuschränken oder rückgängig zu machen, und bei der ungarischen Minderheit den Eindruck hinterlassen, in einem rechtsfreien Raum zu leben. Ungarn seinerseits bietet den Minderheiten – 600.000 Roma, 200.000 Deutschen und 100.000 Slowaken – zwar das Recht auf kulturelle und lokale Selbstverwaltung, ohne jedoch deren Finanzierung ausdrücklich zu garantieren. Die ungarischen Minderheiten haben deshalb immer wieder beklagt, daß ihre kulturelle Autonomie in Gefahr sei und ihre Selbstverwaltungen nicht entsprechend arbeiten könnten. In Rumänien schließlich wurde die Politik des Ceaușescu-Regimes – gewaltsame Assimilierung, Veränderung der Bevölkerungsstruktur, schrittweise Abschaffung der Zweisprachigkeit, Bevorzugung von Rumänen auf allen Ebenen, Militarisierung der von Minderheiten bewohnten Gebiete – nach der Revolution von 1989 teils noch offener und provokativer, teils diskreter fortgeführt. Erschwerend für die Minderheiten kommt die totale Zentralisierung des rumänischen Staates hinzu.

Die Chancen westeuropäischer Institutionen und Länder, bei Minderheitenkonflikten zu vermitteln und sie angemessen zu regeln, sind angesichts ihrer eigenen Defizite gering. Der Europarat etwa betreibt keine von Länderinteressen unabhängige Politik und schwankt in seiner Haltung gegenüber den nach 1989 aufgenommenen osteuropäischen Ländern häufig zwischen Kritik und Duldung der jeweiligen Praxis. In der Reihe der Länder geht vor allem Deutschland mit schlechtem Beispiel voran: Während die deutsche Regierung sich für die Rechte der deutschen Minderheiten in Osteuropa einsetzt, sind die neuen Minderheiten – die Arbeitsimmigranten – sowie Roma und Sinti im Vergleich zu den Dänen und Sorben bislang vollkommen rechtlos geblieben.

Daß dies auch in der neusten Phase der „1201-Diskussion“ auf Kritik aus dem Osten stößt, nimmt nicht wunder. Ende April bekräftigte die Parlamentarische Versammlung des Europarates die Gültigkeit der Empfehlung 1201 und beschloß, für die osteuropäischen Länder Kontrollkommissionen einzusetzen, die über deren Einhaltung wachen sollen. Vor allem in Rumänien löste dies einen Entrüstungssturm aus. Mit welchem Recht, fragten sich Regierungspolitiker in aller Öffentlichkeit, werden im Osten ständig höhere Ansprüche gestellt, als der Westen selbst zu erfüllen bereit ist? Keno Verseck