: Ein Vaterlandsverräter ehrenhalber
Aziz Nesin, der populärste und zugleich am schärfsten angefeindete Schriftsteller der Türkei, ist gestern an einem Herzinfarkt gestorben – er war ein Feind aller Fundamentalismen, ein Freund der Menschen, die ganz unten leben ■ Von Günter Wallraff
Aziz Nesin vereinigte in sich Eigenschaften, die schon als einzelne selten geworden sind, in einer Person versammelt jedoch die Konventionen unserer Zeit sprengen. Menschenrechtskämpfer, Spötter und Satiriker, Volksphilosoph, der dem Volk nicht nach dem Munde redete, Antidogmatiker und Antinationalist, der die Herrschenden immer wieder herausgefordert hat; Ungläubiger, der den Glauben an und die Liebe zu den Entrechteten und Unterdrückten nie verlor, kein sich selbst und andere kasteiender Asket, vielmehr jemand, der Lebensfreude und Sinnlichkeit nicht allein in Prosa und Poesie auslebte und den Tod nicht fürchtete. Dieser eigenwillige und unerschrockene Mahner, selbst noch in einer entmutigenden und zunehmend verzweifelten Lage, war das handelnde, redende und schreibende Gewissen der türkischen Gesellschaft! Er war uns ein Beispiel, über Grenzen hinweg.
Lieber Aziz, verzeih mir, daß ich solche großen Worte gebrauche, ich weiß, daß es Dir bei Deinem schon sprichwörtlichen Understatement gar nicht behagen würde, aber es muß einmal gesagt werden. Was Dich schon in Deiner Kindheit antrieb, hast Du einmal in einem Gespräch ganz schlicht benannt: „Wenn ich irgendwo zwei sich schlagende Menschen sehe, stelle ich mich stets an die Seite des Geschlagenen und mische mich ein. Ich kann gar nicht anders.“ Und: „Keiner kann allein glücklich sein, solange es Unglückliche gibt. Glück entsteht in der Gemeinschaft.“ Deine Parteinahme kam nie von oben herab und bloß rhetorisch, sie bewies sich im alltäglichen Handeln. Aziz Nesin fühlte sich solidarisch mit denen, für die er schrieb, und mit ihnen lebte er auch. „Ich lebe heute genauso wie vor zehn oder zwanzig Jahren“, schrieb er. „Ich stehe Schlange, drängele mich im Omnibus, gehe auf den Markt einkaufen. Als ich eines Tages mit einem, der solch ein Leben nie kennengelernt hat, auf dem Markt gewesen war und mich dann an der Bushaltestelle anstellte, sagte er zu mir: ,Jetzt weiß ich, warum du dich immer noch unters Volk mischst ...‘ – ,Warum?‘ habe ich gefragt. – ,Weil du dabei Material zum Schreiben sammelst.‘ – Gibt es etwas noch Geringschätzigeres, als das Volk als Schreibmaterial zu betrachten? Ich bin ein Kind des Volkes und gehöre dorthin, so wie ein Fisch nur im Wasser leben kann.“
Zwei Sätze fallen mir ein, die auch Aziz Nesin gesagt haben könnte: „Ich gehe nicht aus Gründen der Loyalität ins Gefängnis, sondern weil ich als Eingesperrter am unbequemsten bin“, erklärte Carl von Ossietzky am Tage seines Haftantritts in Berlin-Tegel 1932. Wenn viele in der Weimarer Republik so gedacht und gehandelt hätten wie er, wäre Hitler rechtzeitig durchschaut worden. Wenn es viele Azis Nesins in der Türkei gäbe, wäre dort die Demokratie verwirklicht, und der religiöse Fanatismus hätte wohl kaum Chancen. Auch der andere Satz von Ossietzky war eine Lebensmaxime Aziz Nesins. Er lautet: „Meine Arbeit ist keine Lebensversicherung: das Risiko erst gibt seinen besten Antrieb.“ Dafür verbürgte sich Aziz Nesin mit fünfeinhalb Jahren Gefängnis, an die 200 Strafverfahren und unzähligen Verhören. Er lästerte über die Staatsbürokratie, die Bestechlichkeit und Ignoranz der Politiker, über Korruption, Zensur, Opportunismus, Intoleranz und Fanatismus. Allein 16 Monate saß er ein und nahm die „Schuld“ auf sich für einen Artikel, den er gar nicht geschrieben hatte. Doch er rechnet sich dies zur Ehre an: „Jeder anständige Schriftsteller unseres Landes war im Gefängnis. Denn alle anerkannten und fortschrittlichen und gesellschaftlich engagierten Schriftsteller meiner Generation haben sich gegen die Staatsführung gestellt. Das ist kein Defizit der Künstler. Es liegt vielmehr daran, daß die Regierung sich vom Volk entfernt, das Volk betrogen hat.“
Denken an die Nietenzieher
Was war das Besondere, ja Einzigartige an diesem großen Humanisten, Aufklärer, diesem Nachfahren von Nasreddin Hodscha (dem legendären Volksweisen und türkischen Eulenspiegel)?
Leben und Werk waren bei ihm eine Einheit, da gab es keinen Bruch; schreiben, reden, vorleben, die Identität von Anspruch und Vorbild. Sein Name, den er sich selber gab, bedeutet: „Wer bist Du?“ Der ist für ihn Programm: sich selbst ständig in Frage stellen. Die Einkünfte seiner Bücher und Vortragsreisen fließen in eine Stiftung. Ich war einige Male dort zu Gast. Aziz Nesin lebte da mit Kindern aus armen Verhältnissen und ermöglichte ihnen Ausbildung beziehungsweise Studium. Wer ihn zusammen mit den 28 Kindern und Jugendlichen im Alter von sechs bis 23 Jahren erleben durfte, konnte spüren, daß da eine zwangsfreie Solidargemeinschaft im kleinen verwirklicht war.
Im Gegensatz zu den meisten Stiftern in aller Welt verzichtete Aziz Nesin ganz bewußt auf Spendensammlungen. Er war wirklich autark und sprach selbst von einer „Schuld, daß er seinem Volk auf diese Weise zurückgibt, was er ihm zu verdanken hat“, da er aus einer armen Familie stammte und nur durch ein glückliches Los in den Genuß einer Ausbildung gelangte. Er vergaß nicht: „Mit Bitterkeit denke ich daran zurück. Was wäre geschehen, hätte ich eine Niete gezogen? Vielleicht wäre ich heute Analphabet. Ein ganzes Leben hing davon ab, ob Ja oder Niete auf einem kleinen Zettel stand. Immer werde ich an sie denken, die Nietenzieher, die mit gesenktem Kopf weinten. Wir dürfen sie nicht vergessen.“ Aziz Nesin blieb sich treu, indem er sich in seiner Grundüberzeugung, seiner Nächstenliebe und Solidarität Unterdrückten, Nichtrepräsentierten und Verachteten gegenüber nicht änderte. Er bekannte sich: „Viele von uns schämen sich ihrer Armut, als seien sie selbst schuld daran. Ich habe mich auch jahrelang meiner Armut geschämt, noch bis ich Schriftsteller wurde. Daß in Ländern, in denen es viel Armut gibt, nicht Armut, sondern Besitz beschämend ist, verstand ich erst, als ich zu schreiben begann.“
Aziz Nesin, obwohl parteilich, war nie Mitglied einer Partei! Das Leben, so sagte er, habe ihn zum Sozialisten gemacht: „Es war mir nicht gegeben, die Klasse zu wechseln und so meine eigene Haut zu retten, ein bequemes Leben zu führen ... Meine Klasse ist die Arbeiterklasse, mindestens 25 Millionen von 30 Millionen Landsleuten ...“ – Er glaubte, daß man „die ruinierte Ordnung, die in seinem Land herrscht, radikal verändern und umgestalten muß. Diejenigen, die von diesem Zustand profitieren, sind selbst Betrogene. Sie sagen: So war es, und so bleibt es. Nein, so bleibt es nicht, so kann es nicht weitergehen, das lassen wir nicht zu. Unsere Kinder sollen eine andere Kindheit haben als ich. Wenn wir die bittere Wirklichkeit verstehen und begreifen, müssen wir schreien: So war es, aber so geht es nicht weiter! All unsere Handlungen müssen davon bestimmt werden.“
Nur ja kein Klassiker werden
Aziz Nesin wurde von seinem Staat die Ehre zuteil, „Vaterlandsverräter“ geschimpft zu werden. Exstaatspräsident Kenan Evren titulierte ihn und andere Intellektuelle damit, als sie die versprochene Demokratie einklagten. – Von Ehrungen durch die offizielle Türkei blieb Aziz Nesin verschont. Er, der meistgelesene und angesehenste Autor der Türkei, machte auch keinerlei Zugeständnisse. Er hat sich zu Lebzeiten erfolgreich dagegen gewehrt, zum Klassiker hochstilisiert und damit vereinnahmt zu werden. Zur Zeit der Militärregierung gründete Aziz Nesin in Ankara, Istanbul und Izmir wissenschaftliche Forschungsinstitute im Stil einer Volksuniversität, die den reglementierten und kontrollierten staatlichen Universitäten etwas entgegensetzen sollten.
Seit seiner Initiative, Salman Rushdies „Satanische Verse“ auf türkisch herauszugeben, wurde Aziz Nesin mit dem Tode bedroht. Mir scheint es übrigens kein Zufall, daß ausgerechnet zwei Schriftsteller, die Meister der Satire sind, vom Todesurteil religiöser Faschisten bedroht werden. Dogmatiker jeglicher Couleur, sich im Besitz der reinen Wahrheit wähnend, verstehen keinen Spaß, sie meinen es todernst im wortwörtlichen Sinn ihrer Absolutheitslehre. Der Prophet Mohammed, so wird überliefert, soll nie gelacht haben. Das Lachen erschien ihm, so wörtlich, „wie ein Signal an den Satan“ und sei „als Zeichen von Schwäche und Mangel an Durchsetzung anzusehen“. Im übrigen, auch im christlich-jüdischen Verständnis zürnt und straft Gottvater, aber lacht nicht, und der lachende Christus wurde uns von seinen Aposteln vorenthalten.
Lediglich aufgrund einer Verwechslung kam Aziz Nesin im Juli 1993 bei dem Pogrom im zentralanatolischen Sivas mit dem Leben davon. 37 Menschen (Schriftsteller, Journalisten, Künstler, Tänzerinnen einer Folkloregruppe und Kinder) verbrannten und erstickten in einem von religiösen Fanatikern belagerten Hotel. Das Ungeheuerliche geschieht: In einem Scheinprozeß werden nur einige der verantwortlichen Mörder zu Scheinstrafen zwischen acht und 15 Jahren verurteilt und kurz darauf fast alle klammheimlich freigelassen.
So macht man aus Opfern Täter
Statt dessen sollte dann Aziz Nesin wegen Volksverhetzung vor Gericht gestellt werden, und damit drohte ihm die Todesstrafe. Der Oberstaatsanwalt der Staatssicherheitsgerichte, Demiral, bezeichnete Aziz Nesin öffentlich als „Schuldigen, der durch seine Handlungen die Taten provoziert habe und keinerlei guten Einfluß auf die Gesellschaft ausübt“. – Eine bewährte Strategie: So werden aus Opfern Täter gemacht. In Wirklichkeit war Aziz Nesins Rede in Sivas ein einziges Plädoyer für Gewaltlosigkeit und Toleranz. Der Justizskandal macht deutlich, daß auch die türkischen Gerichte bereits islamistisch unterwandert sind. Aziz Nesin betrachtete es als Pflicht der Intellektuellen, dieser Entwicklung offensiv entgegenzutreten, „die Dinge zu sagen, die gesagt werden müssen und die andere nicht sagen. Die Schriftsteller tragen auch Verantwortung für das, was sie nicht geschrieben haben.“
In Deutschland rief der in Köln lebende Fundamentalistenführer Cemalettin Kaplan dazu auf, „den Gotteslästerer und Ungläubigen“ Aziz Nesin zu ermorden. Ein türkischer Bauunternehmer setzte ein Kopfgeld von 250.000 Dollar aus. Desungeachtet differenzierte Aziz Nesin: „Ich bin nicht allein gegen muslimischen Fanatismus, ich bin gegen jeden religiösen und ideologischen Fanatismus. Es ist die Pflicht von aufgeklärten Menschen, sich gegen ihn zu stellen, wo immer sich eine Handhabe dafür bietet. Nach dem beschämenden Fanatismus des Islam, wie er gegen Salman Rushdie praktiziert wird, wurde in Bosnien und der Herzegowina der Fanatismus der christlichen Welt offensichtlich. Wie auch im Fall von Salman Rushdie ist dieser Fanatismus kein individueller, sondern ein kollektiver. Schlimmer noch, der Fanatismus, wie er in Bosnien-Herzegowina den Tod von 200.000 Menschen verursacht, hat sich im Unterbewußtsein der christlichen Teile der Menschheit breitgemacht. Das nimmt solche Formen an, daß die Europäer und die Amerikaner, die, ob sie nun Christen sind oder nicht oder gar religiös bzw. gottlos wie ich, gegen jede Art von Meschenrechtsverletzungen aufbegehren, jedoch – aus einer unbewußten Antipathie gegenüber dem Islam und seinen Anhängern – ihre Stimme nicht eindeutig genug erheben gegen die Ermordung von Hunderttausenden von Bosniern und Herzegowinern und dagegen, daß diese Massenverbrechen immer weiter andauern. Das ist ein Beispiel größter Heuchelei in unserer Zeit. Gleich welcher Religion oder welcher Ideologie er anhängen mag, der Mensch darf nicht zum Feind des Menschen werden.“
P.S.: Vor einiger Zeit entging Aziz Nesin nur knapp einem Versuch, ihm die Ehrendoktorwürde der Technische Hochschule Darmstadt zu verleihen. Im letzten Moment erkannte der reaktionäre Teil des Hochschulsenats die politische und satirische Größe und Brisanz des zu Ehrenden und stimmte in geheimer Abstimmung mit knapper Mehrheit dagegen. Inspiration für Aziz Nesin, sich mit einer Satire zu bedanken: „Warum es eine Ehre ist, in Deutschland keinen Ehrendoktor zu erhalten.“
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