■ Das Frankreich Jacques Chiracs: Allein und gegen alle!
: Der Leuchtturm

Es gibt einen kleinen Satz, den Jacques Chirac völlig guten Gewissens am Abend seiner Wahl zum Präsidenten der Republik dem Fernsehpublikum mitteilte; ein Sätzchen nur, das unbemerkt blieb, mir aber nicht aus dem Kopf wollte. „Frankreich“, verkündete feierlich der neue Staatschef meines Landes, „muß wieder zum Leuchtturm der Völker werden!“

Drunter tat er's nicht! An jenem Abend zuckte ich mit den Schultern und lachte über soviel Großsprecherei. Was für ein Windmacher, was für eine pompöse und arrogante Rhetorik! „Eh, Schwachkopf, glaubst du, du mußt das Licht anmachen?“ kommentierte einer meiner französischen Freunde – und sprach von etwas anderem. Ich aber stellte mir vor, welcher Aufruhr in Deutschland und welcher weltweite Skandal fällig gewesen wäre, wenn es Helmut Kohl gewagt hätte, den gleichen kleinen Satz in den Mund zu nehmen. Aber in Frankreich scheint die Ankündigung Chiracs nur ein paar Korinthenkacker aufgeregt zu haben. War ich im Begriff, mich nach sechs Jahren Aufenthalt in Berlin zu germanisieren? Hat die große Malaise der Deutschen mit ihrer Nation schließlich auch auf mich abgefärbt?

Der Entscheid Chiracs, weniger als einen Monat nach seinem Amtsantritt die Wiederaufnahme der Atomversuche im Pazifik anzuordnen, war der plötzliche und beunruhigende Widerhall jenes Sätzchens vom Wahlabend. Sicher, Chirac verfolgte mit diesem Entscheid unmittelbare innenpolitische Zwecke. Es ging darum, die Moral der französischen Armee zu stärken und – vor den Kommunalwahlen des folgenden Monats – der Front National Wähler abspenstig zu machen. Aber jenseits dieses Politikaster-Kalküls: War der Entschluß, am Mururoa-Atoll acht Atombomben detonieren zu lassen, nicht die erste Illustration jener noblen Botschaft, mit der Jacques Chirac, auf seinen Bischofsstab gestützt, die „Völker der Welt“ traktieren wollte? Kein Leuchtturm, aber acht Leuchtfeuer in der Südsee!

Chirac hat gleich einen doppelten Pluspunkt gelandet: Er kostet das Regal höchster Macht aus, daß die Verfassung ihm überträgt. Denn in Frankreich ist der Präsident der Republik Herr über die Force de frappe. Er allein ist im Besitz des Geheimcodes, der die Atomraketen in Bewegung setzen kann. Indem er die Atomversuche anordnet, „um die Funktionsfähigkeit der Force de frappe zu sichern“, zeigt Jacques Chirac seine Macht. Zugleich beschwört er die „Grandeur“ Frankreichs und erlaubt sich dabei eine subtile antiamerikanische Pointe, die dem General (de Gaulle, C.S.) gefallen hätte. Bill Clinton hat niemals seine Ansicht verborgen, daß es ihm lieber wäre, wenn Frankreich am Versuchsstopp festhielte. Aber das Frankreich Chiracs nimmt von niemandem Ratschläge entgegen! Es entscheidet allein und gegen alle. Die Atomwaffe ist schließlich die Inkarnation seiner Macht.

Das ist ein Mythos, der noch tief in der kollektiven Einbildung verankert ist, der wenig in Frage gestellt wird. Ich war erstaunt über die ungewöhnliche Größe der Anti-Test-Demonstrationen, die dieser Tage in Paris stattfanden. Denn das Atom ist nach wie vor Bestandteil des französischen Mobiliars. Der Kampf gegen die Nuklearanlagen hat hier niemals die Massen in Bewegung gesetzt, und er hat – im Gegensatz zu Deutschland – niemals zu erhitzten Debatten geführt.

Jeder Franzose weiß von der Existenz des berühmten Knopfs an der Kontrollanlage „Jupiter“, die in einem Bunker unter dem Elysee-Palast installiert ist. Der Präsident, und nur er, darf auf den Knopf drücken. Eine Reihe lockerer, weithin geschätzter Anekdoten umgeben diese Anlage. Giscard zum Beispiel soll den Atomwaffen-Code an einer Kette um den Hals getragen haben. Mitterrand, den Kopf in den Wolken, soll ihn in einem Kleidungsstück vergessen haben, das er zum Reinigen gab. Kleine Geschichten zwischen Kaltem Krieg und Science-fiction, die man mit angenehmem Schauder goutiert.

Was mich umwirft, ist der vollständig anachronistische und mystifikatorische Charakter von Chiracs Entscheidung. Sie kommt mir wie eine edle Verkleidung vor, hinter der sich ein Möbel in elendem Zustand verbirgt. Frankreich provoziert die Wut der pazifischen Länder und wendet seinen Alliierten, mit den Amerikanern an der Spitze, den Rücken zu. Die Atomversuche müssen sein, damit Frankreichs „Rang in der Welt“ bestärkt werde. Damit klar werde: Frankreich hat als „Grande Nation“ noch immer eine Mission. Es bleibt der Leuchtturm für die armen Völker der Welt. Sie wären verloren, würden seine Strahlen nicht ihren Weg erleuchten. Aber um welchen Leuchtturm geht es eigentlich? Sicher, es gibt das Frankreich der Aufklärung und der Revolution, der demokratischen Werte und der Kultur-Nation. Aber das ist lang her, verehrter Herr Chirac! Frankreich hat nicht den geringsten Grund, sein schallendes „Kikeriki!“ loszulassen. Es sitzt auf dem Misthaufen einer profunden Identitätskrise. Drei Millionen Arbeitslose, Obdachlose, drei Bürgermeister der Front National, das Land Europas, wo die extreme Rechte die größten Fortschritte macht. Das Frankreich Chiracs hat es schwer, sich daran zu gewöhnen, daß es nur eine mittlere Macht ist – mit den Problemen einer mittleren Macht. Ein geschrumpftes Land, über sich selbst gebeugt, seiner verblichenen Größe nachhängend.

Um solche Bedrückungen loszuwerden, besuchte ich kürzlich zum ersten Mal in meinem Leben das Panthéon, den Tempel, der von den Revolutionären für die Großen der Nation errichtet wurde. In den Katakomben des Gebäudes zeigt ein Video die großen Augenblicke, die dieser geweihte Ort erlebt hat. Die Rede von André Malraux anläßlich der „Panthéonisation“ des großen Widerstandskämpfers Jean Moulin 1981. François Mitterrand, die Rose in der Hand und mit Hochwasserhosen allein und zu Fuß zum Grab des großen Sozialisten Jean Jaurès pilgernd. Ich fühle einen Stich im Herzen, wenn hier die großen Stunden meines Landes an mir vorbeiziehen. Ja, es ist so, eine köstliche patriotische Bewegung durchzieht mich. Alles in allem – war in diesem kleinen Satz von Chirac nicht doch ein Körnchen Wahrheit? Ich setzte meine Wanderung fort. Am Ende einer Allee erleuchtete ein blau-weiß-rotes Licht den Boden einer Krypta. Wäre Frankreich nach allem nicht vielleicht doch der Leuchtturm? Ich nähere mich, und alles bricht zusammen. Auf einem Holzbrett auf Rollen befestigt, werfen drei nachlässig zusammengebundene Taschenlampen einen schwachen blau-weiß-roten Lichtschein. Das also ist der Leuchtturm für die Völker der Welt, das ist Frankreichs Größe! Pascale Hugues

Freie Journalistin, lebt in Berlin. Aus dem Französischen übersetzt von C.S.