Die letzte Nacht vor dem Morgen danach

Zum Abschied feiern Hunderttausende Christo, Jeanne-Claude und sich selbst – bis die ersten Bahnen fallen  ■ Aus Berlin Anita Kugler

Einen der schönsten Blicke auf den Reichstag genossen die, die mit der S- Bahn den kurzen Weg vom Lehrter Bahnhof zur Friedrichstraße fuhren. Wie durch ein Zoom gesehen, tauchte das glänzende Gebirge weit hinter dem Spreebogen auf, wurde zu einer nahen Ritterburg und zuletzt zum Märchenschloß, versteckt hinter den dunklen Bäumen. In dieser S- Bahn sitzen am Donnerstag, dem letzten Abend vor den Jahren danach, zwei junge Männer am Fenster. Einer von ihnen ist spindeldürr, das Gesicht von Karzinomen gezeichnet, der Kopf fast haarlos, zwei Krücken liegen neben ihm. Als das Gebirge auftaucht, zur Ritterburg wird und als Märchenschloß entschwindet, lächelt er und zitiert Christo: „Alle besonderen Dinge sind zeitlich begrenzt. Die Kindheit, ein Regenbogen, das Leben.“ In der Friedrichstraße steigen die Freunde aus, um auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig den Zug zum Lehrter Bahnhof zurückzunehmen. Und wieder zurück, und wieder zurück.

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Auf der großen Wiese vor dem Reichstag, drumherum, auf den Mauern und den Treppen stehen, sitzen, schlendern Hunderttausende, mehr als jemals zuvor in den letzten vierzehn Tagen. Noch um zwei Uhr nachts, als die Tieflader für den Abtransport des Silberstoffes schon längst auf der Straße des 17. Juni warten und die ersten Polizisten Patrouille um die Burg laufen, schimmern überall die Teelichter und die Kerzen, die Abertausende mitgebracht haben, dazu Sekt, Kirschen und Baguettes. Zum Abschiedsfest sind alle gekommen; die Süchtigen, die keinen Christo-Tag verpassen konnten, die Hobbyfotografen, denen 999 Fotos noch nicht reichten, die Westdeutschen, die sich in letzter Minute – weichgeklopft durch die ständigen Fragen: Warst du schon ... in Heidelberg und München in die Züge setzten, die Kleinkunstdarsteller aus halb Europa und alle die, die eine Botschaft haben.

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Auf der untersten Stufe zum Westportal ist ein kleiner Altar aufgebaut, behängt mit schwarzen Tüchern. Darauf liegt, aufgeklappt und mit einem Brikett beschwert, eine Bibel, Johannesoffenbarung, Kapitel 20. Gelb markiert ist die Zeile über das Schweißtuch Jesu, welches die Jünger „zusammenwickelten und an einen besonderen Ort brachten“. Daneben ist die aktuelle Auslegung zu lesen: „Nach der Enthüllung bringen wir das Tuch mit vielen anderen nach Bosnien und verpacken sämtliche Waffen.“ Zur gleichen Zeit stehen auf den obersten Treppenstufen, unterhalb der verhüllten Widmung „Dem deutschen Volke“, Mitglieder der Grünen mit dem riesigen Transparent „Stoppt Chirac und seine Atomversuche“. Den Aufruf „Mururoa, mon amour“ unterschreiben fast als erste Christo und Jeanne-Claude. Spät in der Nacht kommt auch das Unterstützungskomitee Abu Jamal und fordert die Freilassung des in den USA zum Tode verurteilten Journalisten. Aber da sind Christo und Jeanne-Claude schon fort.

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Das Schönste an diesem Kunstwerk war, daß es keine „message“ hatte, meinte eine Besucherin. Das habe die ganze Geschichte so unverkrampft, so leicht gemacht. Die insgesamt etwa fünf Millionen Menschen, die in diesen kurzen Sommertagen um das Gebäude pilgerten, empfanden ebenso. Niemals zuvor lag über dieser ruppigen Stadt Berlin und erst recht nicht über dem Platz der Republik eine solche friedvolle Heiterkeit. Unvorstellbar, daß diese Deutschen, die ihren Wein spontan mit Fremden teilen, die alle Sprachen der Welt plötzlich verstehen wollen und sich entschuldigen, wenn jemand sie aus Versehen anrempelt, jemals wieder in einen Krieg ziehen könnten.

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Sehr spät in der Nacht, als die vielen Trommler, die unermüdliche Combo aus Peru, die Jongleure der Akrobatikschule, die Feuerschlucker aus dem Kunsthaus Tacheles, die Dixi-Band aus Canada und und und ... müde geworden sind, kommen die Stunden der leisen und einsamen Töne: der Cellos, der Klarinetten, der Saxophone, der Geigen. Am Südportal steht eine Klezmergruppe, die die jiddischen Lieder so herzzerreißend spielt, daß vielen Besuchern die Tränen kommen. Nach all dem Trubel, dem Jahrmarkt, dem größten Happening dieses Jahrhunderts, fidelt und singt sie den wirklichen Abschied vom Ausnahmezustand ein. Schmelzend, wunderschön und sehr melancholisch. Ein Besucher schenkt der Geigerin das Wertvollste, was er schenken kann. Ein Quadratchen des heißbegehrten aluminiumbedampften Polypropylengewebes, zwei Zentimeter Traumstoff. Hunderttausend Quadratmeter davon verschwinden ab nächster Woche in einer westfälischen Recylingfabrik, um einmal Fußmatten und Mülldeponiefolien zu werden. In Berlin hingegen werden Ohrgehänge aus Christo-Stoff bald sehr teuer werden.

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Am frühen Freitagmorgen, als das erste Sonnenlicht zum letztenmal das Schloß, die Burg, das Polargebirge zum Leuchten bringt, versammeln sich einige hundert dort, von wo der Blick so besonders schön war, hinter dem Kanal, am Spreebogen. Ihre Bewegungen sind langsam geworden. Vom anderen Ufer kommen Trompetenklänge, eine Phrase, drei Töne, dann bricht der Bläser ab. Und jetzt sehen sie die Wunde. Die Innenseite des Schmuckttürmchens am Westportal ist nackt. Ein schmutziggraues, längliches Dreieck zeichnet sich gegen den Himmel ab. Guten Tag, Realität. Endgültig wird die Illusion am Sonntag verschwunden sein. Als die Bauarbeiter um die Kunst, die sich das Volk so souverän angeeignet hat, den Zaun ziehen, machen sie den Bogen um das Westportal etwas größer als notwendig. Sie zäunen Hunderte von roten Grablichtern ein, die junge Leute in der späten Nacht zusammengestellt haben. In der Morgensonne flackern sie noch immer.