Vorsicht, Schockumentarfilm!

■ 21 Hinrichtungen zeigt das in England heftig diskutierte Video "Executions". 60.000 Exemplare wurden auf Anhieb verkauft. amnesty stieg aus, der Ruf nach Zensur wird lauter. Aus London Mariam Niroumand

Vorsicht, Schockumentarfilm!

„EduVision“ heißt die kleine Firma, die das Video „Executions“ produziert hat, und vielleicht liegt in diesem Namen schon die ganze Crux ihres Unterfangens begraben: Die Leute sollen etwas zu sehen kriegen und gleichzeitig erzogen werden. 21 Exekutionen des 20. Jahrhunderts sind aneinandermontiert, von arabischen Ehebrechern, chinesischen Boxern, amerikanischen Mördern bis zu polnischen Juden, Nazis, deutschen Spionen oder Tutsi-Familien.

In der öffentlichen Debatte, die seit zwei Wochen in London auf allen Kanälen und in allen Blättern tobt, wird von den meisten Journalisten bestritten, daß beides zusammen möglich ist. Vor allem in den Boulevardblättern, aber durchaus auch im Guardian und im Independent wird der Atavismus von der unberechenbaren Macht der Bilder über die Masse aktiviert und nach Zensur gerufen: „It's grisly and awful, but they like it!“ heißt es in der Evening Post, und in der Tat wurden bereits in der ersten Woche 60.000 Stück verkauft. Als dann der Großverleger WH Smith „Executions“ von den Regalen nahm, ging der Verkauf zuletzt prompt auf 2.000 Stück zurück.

Eine Zensur fand indes nicht statt: James Ferman, Leiter des British Board of Film Classification, bekräftigte seine Entscheidung trotz derber Angriffe noch einmal gegenüber der taz: „Der dokumentarische Stil dieses Werks ist nicht nur ernsthaft, sondern es ist dermaßen mit Fakten gespickt, daß die Wahrscheinlichkeit, es könnte Kinder anlocken, sehr gering ist, trotz des großen Presserummels. Ein Großteil des Materials war ohnehin schon im Fernsehen zu sehen, und einiges davon ist in der Tat schockierend. Aber das ist genau die Absicht dieses Films, der Teil einer Kampagne gegen die Todesstrafe oder staatliche Exekutionen in jeglicher Form ist.“

Der Film beginnt mit einer Deklamation, die mit leisem Trommelwirbel unterlegt ist. „Viele dieser Bilder werden noch immer von den Regierungen der betroffenen Länder zensiert, weil sie mit dem Mythos aufräumen, es könne schnelle, klinische und humane Exekutionen geben.“ Dieser Film, so der Vorspann, sei die Hinterlassenschaft der Hingerichteten.

Die postulierte Nähe zu den Toten, wie man sie aus Holocaust-Filmen kennt, wird visuell durch ein brechendes Auge illustriert, das immer wieder zwischen die einzelnen Sektionen geschaltet ist wie ein Refrain: Die Toten sind unsere Zeugen. Das Auge wird eingeführt durch die angeblich einzige nachgestellte Szene im Film: die Entdeckung des französischen Arztes Jean Burieux, der den enthaupteten Kopf des Banditen Languille mehrmals nachdrücklich mit Namen angerufen und festgestellt hatte, daß dessen Blick ihn fixierte. „Schaut den Verurteilten in die Augen“, raunt man uns aus dem Off zu, und man sieht einen nicht näher identifizierten Schwarzen, der kurz an der Kamera vorbeigeschleift wird und einen letzten blutunterlaufenen Blick wirft.

Was zunächst nur das Argument absichern soll, daß es eine schmerzlose Exekution nicht geben kann, verschwindet schnell ins Christlich-Atavistische: Es sind vor allem die Aufklärung und die von ihr erfundenen Todesarten, die hier angegriffen werden. Mit der Guillotine, der vermeintlichen Gleichheit und Humanität der Hinrichtung, sei die Unmittelbarkeit des „ersten Steins“ verloren, befand der Filmemacher (siehe Interview). Wo früher noch ein Mob war, ist heute ein anonymer Staat; „Executions“ legt nahe, daß es nicht Gesetze sind, die den einzelnen schützen könnten, sondern eben gerade deren Abschaffung.

An Kieslowskis „Dekalog“ erinnernd, ist „Executions“ in besagte Sektionen unterteilt: „Steinigungen“ zeigt, wie eine Somalierin aus einem UNO-Wagen gerissen, ausgezogen und in unmittelbarer Nähe zu den weiß-blauen Wagen von einem über ihre Fraternisierung mit den Besatzern erbosten Mob zu Tode gesteinigt wird. „Chemische Exekutionen“ zeigt Bilder aus einem kurdischen Dorf, das von Saddam Husseins Truppen verwüstet worden war, gedreht von Verwandten eines Mannes, der sich über sein ersticktes Baby geworfen hatte. „Strangulationen“. „Erschießungen“: Massenmord an Armeniern, an Juden, an Drogenabhängigen, an Kulaken.

Beiläufig werden die Massenvergasungen der Nazis auf frühere Hinrichtungsmethoden in den USA zurückgeführt, während die amerikanischen „Todesspritzen“ mit Mengele und der Operation T4 in Verbindung gebracht werden. Thomas Edison wird nur nebenbei als Erfinder der Glühbirne erwähnt, hauptsächlich als Ehrgeizling, der im Kampf gegen seinen Konkurrenten George Westinghouse den elektrischen Stuhl erfunden und seinen Einsatz dann im Jahre 1901 auch als erster gefilmt hat. „Der Film hat so eine merkwürdig antiamerikanische Haltung“, fand denn auch der Labour-Abgeordnete Roy Hattersly, der sich – wie übrigens erstaunlich viele seiner Kollegen von den Tories – gegen den Film ins Zeug gelegt und so dafür gesorgt hat, daß er zwar nicht zensiert wird, aber doch aus den Läden verschwindet.

In der Geschichte wie in der Geographie wird in „Executions“ freigiebig hin und her gesprungen, so daß visuell der Eindruck einer permanenten und globalen, irgendwie alttestamentarischen Grausamkeit entsteht, während der Kommentar den Zuwachs an Inhumanität der Aufklärung in die Schuhe schiebt. Daß man ihn trotzdem nicht gleich zu den Akten legen kann, liegt an gewissen Brüchen: an den fünf Minuten Film, in denen ein Verurteilter aus Libyen über seine Familie, seinen letzten Schulbesuch, seine Zeit in der Stadt spricht und man den Eindruck von einem Leben vor dem Tod bekommt, das auf mehr als diesen Tod hin gelebt worden ist.

Die Frage, ob es sich um ein „Snuff“-Movie – also das Zeigen eines realen Mordes zu Unterhaltungszwecken – oder um einen ernstzunehmenden Dokumentarfilm handelt, wird in Großbritannien von vielen Kommentatoren schlicht anhand der Tatsache entschieden, daß sich die britische Sektion von amnesty international aus dem Projekt zurückgezogen hat. Während die Filmemacher behaupten, amnesty habe die volle redaktionelle Kontrolle über die Produktion und Distribution verlangt und sei ausgestiegen, als EduVision dies abgelehnt habe, legt der Briefwechsel, den amnesty der taz zur Einsicht gab, anderes nahe: daß die Filmemacher nämlich nur unter der Vorgabe eines amnesty- Projekts Zugang zu Archiven wie dem „Imperial War Museum“ oder Reuter's hatten, der ihnen jetzt verwehrt wird.

Inzwischen behaupten die Filmemacher, amnesty habe in seinem eigenen Film zum Thema „The Next Step“ Aufnahmen aus dem Snuff-Film „Faces of Death“ verwandt. Während amnesty durchaus einräumt, daß dies versehentlich beim Ankauf von Fernsehmaterial aus Dänemark vorgekommen sein könnte, ist die übrige Aussage von „The Next Step“ immerhin, daß es gegen die Todesstrafe noch etwas zu unternehmen gibt – was man von „Executions“ nicht behaupten kann.

„Wir haben von Anfang an klargemacht, daß wir keine kommerziellen Produkte mit unserem Logo versehen können“, erklärt ai- Pressesprecher Richard Bunting. „Wir waren zunächst sehr angetan von der Projektbeschreibung und lasen dann die, die an den Verleiher Polygram gegangen war. Da hieß es plötzlich: ,Wenn man es richtig macht, kann dieser doppelte Ansatz von humanistischer Sensibilität einerseits und Schockwert andererseits vielen Zwecken dienen. Dieses Video wird ein Thema auf allen Parties werden!‘ Da sind wir dann ausgestiegen.“

Der gute Zweck im Trojanischen Pferd des Horrorfilms? Nennen wir es Schockumentarfilm: Es gibt Aufnahmen, die nur dann eine Öffentlichkeit vertragen, wenn sie von ihrem Kontext „geschützt“ werden – alles andere fügt den eh schon Verlassenen nur eine weitere Brutalität zu.