Nachschlag

■ Hechten ohne Ziel – Tanztheater im Ballhaus Naunynstraße

Während auf den überhitzten Berliner Straßen die Raver ihre Liebesbotschaft verbreiten, geht es im angenehm kühlen Ballhaus Naunynstraße hart zur Sache. Aggressive Punkrhythmen bearbeiten das Trommelfell, Girls in Ballett-Tutus und Knieschonern jagen über die Bühne. Vera Hellige hat „Kanal 6“ choreographiert. Sechs Tänzerinnen als Schlampen: sexy, böse und brutal. Sie lassen geil die Zungen über ihre Lippen fahren, kreisen eher grob als lasziv mit ihrem Becken und attackieren sich gegenseitig aufs heftigste: No mercy! Die Tänzerinnen sind gut, die Choreographie ordentlich gearbeitet, aber überzeugen kann das Ganze nicht. Die martialischen Biester, bei denen der Tutu (das Sinnbild für elfenhafte Weiblichkeit) zur drohenden Körperpanzerung mutiert, hat man schon überzeugender bei der Hamburger Gruppe COAX gesehen. Ebenso die Gesten, das gesamte Ausdrucksvokabluar. Sicher ist es legitim, die Ideen anderer Gruppen aufzugreifen – allerdings nur, wenn man damit etwas eigenes herzustellen in der Lage ist. Doch genau daran mangelt es diesem auf Bühnenwirksamkeit angelegten Stück. Die herbeizitierte Schlampe wird nicht besungen, nicht kritisiert: Sie hechtet in sechsfacher Ausführung als animierte Leerstelle über die Bühne. Und so kann der Tanz der eingängigen und meist in voller Lautstärke dröhnenden Musik nichts entgegensetzen – was als Verstärker gedacht war, verkehrt sich ins Gegenteil: Das Scheppern aus dem Off läßt die Bühnenvorgänge nicht kraftvoller, sondern schwächer erscheinen, als sie sind.

Von solchen Problemen kann bei Ingo Reulecke, der als zweiten Teil des Abends „Bewegte Gänge“ zeigt, nicht die Rede sein. Mit „Bewegte Gänge“, schon des öfteren an anderen Orten aufgeführt, entwirft der Choreograph einen höchst eigenwilligen Bewegungskosmos. Meditativ entrückt, bestimmt durch ebenso organische wie abstrakte Bewegungen. Zu einer leicht psychedelisch anmutenden Klangcollage durchmessen ein Tänzer und zwei Tänzerinnen (die Dritte fiel wegen Krankheit aus) in wechselnden Konstellationen den Raum. Sie rollen über den Boden, brechen aus völliger Ruhe in kurze Bewegungsexplosionen aus, suchen mit ihren Körpern die Rundung des Linearen und die Linearität des Runden. Die Choreographie erzählt keine Geschichte, läuft auf kein Ziel, keinen Endpunkt hinaus. Eher handelt es sich um Bilder vom Dasein, um eine Zustandsbeschreibung, die den Zuschauer einiges an Konzentration abverlangt. Oder anders gesagt: Die ihnen die Möglichkeit zur Konzentration anbietet. „Bewegte Gänge“ ist die erste größere Produktion von Ingo Reulecke, eine bemerkenswerte Arbeit. Michaela Schlagenwerth