Einfach schön und jung sein

Love Parade 1995 – der Fall der Mauer war dagegen eine Abendandacht / Einen Tag und eine Nacht feiert eine Generation sich selbt / 200.000 verwandeln Berlin in die heimliche Hauptstadt des Techno  ■ Von Torsten Preuß

Sie war wirklich süß. Minirock und schwarze Lederstiefel, ein T-Shirt, so leuchtend wie ein Textmarker und so eng, daß er kaum glauben konnte, daß dahinter keine Absicht steckt. „Na und“, sagte er sich, schließlich war sie erst 16, er aber schon 32. Anfangs hatte er ihr nur zugehört, weil die Fahrt im Intercity Hamburg-Berlin so dröge war. Aber je länger sie erzählte, um so weniger Lust hatte er, von Berlin aus weiterzufahren nach Rudolstadt in Thüringen, einem kleinen Nest, in dem am Wochenende das größte Folkfestival diesseits des Atlantiks stattfinden sollte. Das, was er dort zu finden hoffte, konnte er auch hier in Berlin, der „heimlichen Hauptstadt des Techno“, wie sie sagte, erleben: geile Party, geile Leute, geile Musik und viel, viel „Love and Peace“.

Er ging mit ihr, und plötzlich war er mittendrin.

Ununterbrochen brachten Züge und Autos aus allen Teilen Deutschlands und einer Menge anderer Länder die „Raver“ in die Stadt. Schon Tage zuvor hatten die selbsternannten Botschafter der guten Laune, die Verfechter der Partys für eine oder mehrere Nächte, Straßen, Plätze und Gazetten beherrscht.

Als die beiden den Bahnhof Zoo verließen, reihten sie sich einfach ein in den Strom der blendend gelaunten Gästeschar. Das Thermometer zeigte 32 Grad. Es dauerte eine Weile, aber dann standen sie auf dem Kudamm, in einer Menschenmenge, die er in dieser Größe noch nie gesehen hatte. Waren es 200.000 oder 300.000 oder gar eine halbe Million? Wer will das schon sagen? Fest stand für ihn nur, daß wohl noch nie so viele Menschen zusammen auf einer Straße so ausgiebig getanzt, sich so hemmlungslos ausgelassen haben wie auf dieser Love Parade 1995. Der Fall der Mauer war dagegen eine Abendandacht.

Alles kam zusammen: Hitze, Lust und gute Laune. Die Westberliner Innenstadt bebte im Rhythmus einer Generation, die beschlossen hatte, die Neunziger zum Jahrzehnt des Techno zu machen. Und niemand schien etwas dagegen zu haben. Polizisten trugen schwarze Designersonnenbrillen und versuchten mitzutanzen, wenn einer der 32, mit riesigen Musikwerken bestückten Lkws an ihnen vorbeilärmte, und die AnwohnerInnen der Nobelmeile kühlten die ausgetrockneten Körper der Streetdancer, indem sie Wasser eimerweise aus Fenstern schütteten. Alles, was irgendwie einen guten Blick über das eigentlich unüberschaubare Treiben bot, wurde ohne Angst und Gegenwehr besetzt. Die Dächer von Imbißbuden, U-Bahnhöfen, Wohnhäusern – auf allem, was nicht durchbrach, wurde getanzt und gestaunt. Straßenlampen und Verkehrsampeln waren regelrecht bevölkert, gerade so, als wären sie nur dafür aufgestellt worden, daß Menschen ausprobieren, wie elastisch sie sich im Technotakt verbiegen lassen.

Die Chance, im Strom der Leiber jemanden zu verlieren, war riesig, ihn wiederzufinden, faktisch null. Deshalb stand er schon nach 30 Minuten wieder allein da, denn vom Kauf der überall angebotenen „Energy“-Getränke kam sie nicht mehr zurück.

Seine Enttäuschung hielt sich in Grenzen. Wohin er auch schaute, überall sahen alle nur gut aus. Noch nie hatte er so viele Jungen und Mädchen gesehen, die sich mit so wenig so gut anziehen konnten. Je knapper desto besser. Boys und Girls prahlten in der Sonne mit Körpern, die aussahen, als wären sie von Modefotografen kreiert worden. Einfach schön und jung zu sein, war wieder in. Vielleicht, dachte er, ist sie deshalb vom Getränkekauf nicht mehr zu ihm zurückgekommen.

Egal. Die Musik trieb jede Trauer darüber schon im Ansatz aus dem Hirn. Der immergleiche Takt ließ ihn die ersten Zweifel an der Wir-sind-alle-gleich-Philosophie der Raverinternationale, von der er zum ersten Mal am Vormittag im Intercity gehört hatte, schnell wieder vergessen. Er tanzte einfach mit, gab sich hin, und als die „Love Parade“ nach sechseinhalb Stunden zu Ende ging, lief er den aufbrechenden Massen einfach hinterher. Er wollte mehr, wollte sehen, wie die Ideale der Parade, „Friede, Freude, Eierkuchen“ (so alt wie seine Jeans) und „Peace on Earth“ (noch älter), im Nachtleben der über fünfzig Klubs, die zum Abtanzen einluden, Bestand haben würden. – Er tanzte im „Time Tunnel“, einem Labyrinth von Fußgängerunterführungen unter dem Alexanderplatz (Fassungsvermögen 9.000 Menschen), in einer extra umgebauten Halle eines Flughafens, in einem Badekomplex (Eintritt nur barfuß und in Badesachen), wo das Wasser warm und voll war und die Luftfeuchtigkeit parallel zum Takt des hämmernden Sounds zu steigen schien.

Überall traf er Menschen, die allesamt der Meinung waren, irgendwie zusammenzugehören und das gleiche Ziel zu haben, die mit ein bißchen Frieden, Freundlichkeit und Liebe die Welt erretten wollten. „Peaceful“ war das am meisten benutzte Wort, wenn es um die Zukunft ging.

Gleichzeitig waren die meisten stolz, unpolitisch zu sein, wünschten in Ruhe gelassen zu werden [das wollten meine Eltern auch schon! d.sin] und ansonsten jederzeit einen guten Rave. Dazu schluckten sie kunterbunte Pillen, von denen nicht einmal der liebe Gott wissen wird, was sie alles enthielten, schlafften daraufhin ab oder starteten wieder durch, hüpften mit weiten Augen oder lachenden Gesichtern jeder für sich, oder, wie sie es sagten, „alle zusammen“ im immergleichen Takt zwischen Nebelschwaden, Lichtgewittern und Bumbumboxen immer schön allein umher und griffen zwischendurch einen der über tausend Kondome ab, die MitarbeiterInnen der „Aids Hilfe Prenzlauer Berg“ im Laufe der Nacht auf den Partys verteilten.

Ihm kam von dem, was er da sah und hörte, eine Menge seltsam bekannt vor, und weil der Zauber der Musik langsam in schwererträgliche Kopfschmerzen mündete, zog er sich zurück und dachte an alte Punkzeiten, wo er, wie alle anderen auch, immer schnell und gründlich vollwerden wollte, oder Greatful-Dead-Konzerte, auf denen alle zusammen die Friedenspfeife rauchten. Dann ging er raus.

Vor den Klubs der Friedenstänzer standen überall Security-Männer, die allesamt so breit wie hoch waren und jeden nach Waffen abtasteten. Noch weiter davor standen die, für die in der „Gemeinde“ schon gar kein Platz mehr war. Eintrittspreise zwischen 30 und 75 Mark pro Party ließen viele der extra angereisten Raver nur die Möglichkeit, ihren Frieden mit der Erde auf öffentlichen Plätzen bei spontanen Partys zu schließen, oder sich in einen der wenigen Klubs zu begeben, die sich der absoluten Kommerzialisierung der Bewegung verweigerten, und sich dort den Gedanken über das Verhältnis von Anspruch und Realität hinzugeben.

Er lief Richtung Brandenburger Tor, immer wieder aufgeschreckt von vollen Kabrioschlitten, die mit aufgedrehter Stereoanlage technomäßig durch die Straßen der Hauptstadt dröhnten. Schließlich flüchtete er in die Ruhe des Tiergartens unweit des neuen alten Reichstags.

Er versuchte noch, sie zwischen den dort nächtigenden Love-Parade-TouristInnen zu finden, gab es aber schließlich auf, setzte sich und dachte an das, was sie ihm im Intercity gesagt hatte: „Vielleicht sind wir die ersten, die nicht gegen etwas, sondern für etwas sind.“ Vielleicht, dachte er, wen schert's? Dann griff er aus seiner Hosentasche etwas, das er sich für das Folkfestival in Thüringen aufgehoben hatte, blies wenig später den Rauch in den warmen Wind und stellte fest, daß sich doch alles wiederholt. Nur der Rhythmus ist immer ein anderer.

Fotos: Russel Liebman/Signum