Die Kurzen kommen

Neuerdings feiert der sogenannte Kurzfilm wieder fröhliche Urständ – Ein Genre wird wiederentdeckt und geschickt plaziert – mancher Spielfilm funktioniert schon nicht mehr ohne  ■ Von Carola Feddersen

Wer sich „Pulp Fiction“ angesehen hat, und wer hat das nicht, konnte sich mancherorts am ironischen Sadismus des Vorfilms „Made for TV“ ergötzen. Sein Regisseur Garry Yates, heißt es, sei wegen des kurzen frotzeligen Machwerks von der Filmhochschule geflogen. Was wäre aber ein Film ohne Vorfilm, ein „Abgeschminkt“ ohne den „schönsten Busen der Welt“? Einfach nackt. Laut Kinowelt hatten die Filmtheater mit Pepe Danquarts „Schwarzfahrer“ im Vorprogramm deutlich mehr Besucher als andere Kinos mit demselben Hauptfilm ohne Kurzen im Gepäck. Nach langer Flaute ist die Kunstform des kurzen Großen wieder ein Hype.

Und das zu Recht. Denn mit dem Kurzfilm fing alles an. Die ersten laufenden Bilder waren in Berlin 1895 die kurzen Variété- Nummern des Wintergarten-Programms, abgefilmt vom Brüderpaar Skladanowski auf ihrem Bioscop. Die Brüder Lumière zeigten zeitgleich im „Grand Café“ zu Paris „La sortie d'usine: Arbeiter verlassen die Fabrik“ in Realzeit, eben ziemlich kurz. Die knappen Filmmeter des ersten Filmjahrzehnts – in der Regel waren es zwischen 15 und 50 Meter, entsprechend einer Spieldauer von 3 bis 15 Minuten – enthielten Dokumentarbilder im heutigen Sinne. Chaplin erprobte sich an etwa 30 Kurzfilmen, bevor er den ersten (fast) programmfüllenden Film „The Kid“ inszenierte.

Der Kurzfilm als Forum für eine experimentelle Ästhetik läutete in den 20er und 30er Jahren die erste Bürgerschreckphase der Filmgeschichte ein. Walter Ruttmanns dadaistische Werke Opus III und IV (1925), Marcel Duchamps „Anémic Cinéma“ (1927) und René Clairs „Entr'acte“ (1924) verweigerten sich strikt der zeitgemäßen Semiologie und ließen Formen und Farben fröhliche Revolten tanzen. Bunuels „Un Chien Andalou“ (1928) und „L'Age d'Or“ (1930) waren da bekanntermaßen skandalöse Präzedenzfälle, ein Affront gegen die erzählende Bürgerlichkeit und deren Bildkonvention. Ein Kurzfilm wie Patrick Bennals „Gegenschuß“ bildet dazu ein schönes Pendant aus jüngster Zeit. Fünf Männer sitzen Chips futternd und Bier trinkend vor der Glotze. Auf dem Bildschirm läuft ein Vietnamfilm. Die Spießeridylle endigt in einem interaktiven Gemetzel zwischen TV-Personalities und Heimpublikum. Der Kurzfilm macht die Abstraktion notwendig; so kommt es, daß er allerhand formale Novitäten hervorgebracht hat, die ihn als Genre identifizierbar machen. Mitunter gelingt es ihm auch, die Kollegen vom „richtigen Film“ und dessen Konstrukte zur Implosion zu bringen. Martin Arnolds „Passage à l'acte“ zeigt Gregory Peck am Familienfrühstückstisch, heitere Hollywood- Stimmung. Pecks Handbewegungen aber sind so gesampelt, daß sie auf intrikate Weise die Machtmechanismen und -verhältnisse der bourgeoisen Kleinfamilie bloßstellen. Zugleich entlarvt und zersetzt der Film die Klischees der Medienrealität.

Der deutsche „Kulturfilm“ der 30er Jahre, der im Abspielmodus der deutschen Kinos zwischen Wochenschau und Hauptfilm eingeklemmt war, hatte etwas - man ahnt es bereits beim Begriff - unselig Verordnendes. Er unterlief diese Freiheit und Frechheit, die sich innerhalb der zeitlichen Beschränkung hatte entwickeln können. Von Goebbels als politisch- pädagogisches Glossar zum täglichen Leben im Hitler-Staat eingesetzt, erholte sich der Kurzfilm bis in die 50er Jahre nicht mehr von der Instrumentalisierung durch selbsternannte Aufklärer und Propagandisten. „Drei Meister schneiden Holz“ (1953) oder „Maschine“ (1966) hießen etwa die lehrreichen „Kulturfilme“ in Deutschland, während die Filmtheoretiker der Cahiers du Cinéma in Paris ihre ersten kurzen Meisterwerke schufen und in den USA das New American Cinema entstand. Kenneth Anger exponierte in seinen Kurzfilmen den Mythos des Motorrads und die eigene Homosexualität: Alles an Lust, Gewalt und Macht im kurzen Format und Little Peggy March singt dazu. In der DDR setzte man bis 1989 auf den peinlichen „Kulturfilm“ im Kino.

Ab 1968 konnte sich das Genre dann der Pflicht zur „Bildung“ entschlagen. Losgelöst vom Kulturauftrag verschwand er aber auch gleich aus den Kinos – wenn er nicht gerade zum Erlaß der für den Hauptfilm zu zahlenden Vergnügungssteuer benutzt wurde. Um aber dem Vergnügen am Kurzen weiterhin frönen zu können, entstanden allein in Deutschland 13 ausschließliche Kurzfilmfestivals.

Pünktlich jedes Jahr, spätestens aber zum Termin des wichtigsten Festivals in Oberhausen, erhält das langatmige Lamento zur Situation des kurzen Films wieder Resonanz. Doch das Argument der Reduktion als Festivalfilm auf einen geschlossenen Kreislauf wird zunehmend obsolet. Neben enagierten Betreibern von kleinen Programmkinos sind es hauptsächlich zwei filmwirtschaftliche Hebel, die durch Verleih und Vertrieb den Kurzfilm wieder in die Kinos und ins Fernsehen bringen wollen: die KurzFilmAgentur Hamburg und Yildizfilm aus München, bzw. Babelsberg.

Ihnen ist unter anderem zu verdanken, daß inzwischen ein Kurzfilm im Kino kein ganz so ungewöhnliches Ereignis mehr ist. Beim Vorfilm verläßt – in der Annahme, im falschen Film zu sitzen – heute niemand mehr den Saal. Im Gegenteil: „Die Leute rufen vor der Vorstellung an, um zu erfahren, ob und welcher Vorfilm läuft“, meint Sonja Schmidt vom Delphi- Filmverleih Berlin, der im Moment Ernst Kahls „Archie“ als Vorfilm zum amerikanischen Independent- Hit „Clerks“ anbietet. Der gezeichnete Animationsfilm des Hamburgers Regisseurs ist so witzig und bissig, daß er perfekt auf die fulminanten Dialoge der „Ladenhüter“ einstimmt. Beide Werke sind auf liebevolle Weise von der Präsenz ihres Gegenstandes erfüllt und machen den Abend im Doppelpack komplett.

Das Publikum reagiert positiv. Das zeigt auch eine Untersuchung, die diesen März von einer Projektgruppe der Hochschule der Künste durchgeführt wurde. Die Umfrage unter den Besuchern der Berliner Kinos brachte das Ergebnis, daß91Prozent der Befragten ein generelles Interesse am Kurzfilm haben, 87 Prozent möchten ihn wieder „regelmäßig“ als Vorfilm im Kino sehen.

Ein bemerkenswerter Unterschied zu einer 1986 von der FU Berlin angestellten Nachforschung ist, daß die Kinobesucher Ästhetik, Inhalt und besonders das formal und inhaltlich Ungewohnte am Kurzfilm keineswegs – wie 1986 noch – negativ bewerten, sondern ganz gegenteilig zu den Reizen des Genres zählen. So verhalfen beispielsweise die Kinofans dem Kurzen „Der Hahn ist tot“ von Zoltan Spirandelli durch Mundpropaganda zum Kultfilmstatus. Als Vorfilm verschiedener Spielfilme erreichte er über eine Million Zuschauer in Deutschland.

Für die Wiederbelebung der Filmlandschaft sind vor allem die Kinomacher relevant, um deren Service und Beratung sich die Kurzfilmverleiher bemühen. Allgemein wird heftigeres Interesse bekundet an der Kunstform, die nicht viel Geld verspricht. Kluge Programmpolitik seitens der Kinos zeigt jedoch, daß dem auch Konsequenzen folgen sollten. Denn die Präsentation von Kurzfilmen verleiht ein besonderes Image und ist durchaus monetär vielversprechend. Der Run auf die Filme Danquarts oder Spirandellis zeigt es.

Auch das Fernsehen reagiert. Eine Chance bietet sich jenen Kurzfilmregisseuren, die das Paradox nicht fliehen, daß das Kino ökonomische Maschine ist, aber genauso zur gezielten künstlerischen Geste genutzt werden kann. Um den Eigenanteil des Regisseurs an den Produktionskosten seines Filmes zu refinanzieren, ist er auf die Lizenzankäufe durch die TV- Sender angewiesen. Arte, premiere, Sat.1, 3Sat und manche dritten Programme haben nach einer Flaute in den 80ern eine feste Programmschiene für den Kurzfilm eingerichtet. „Wir wollen nicht nur nach den Quoten schielen“, meint Redakteur Reinhold Binkle, der sich beim Lokalsender B1 um das Kurzfilmmagazin „United Unsinn“ kümmert, „wir stehen auf die Erdbeeren und exotischen Früchtchen in unserem Programm“.

Neben dem Ankauf von Kurzfilmen gehört bei besonders rührigen Sendern wie Arte und Premiere auch die Kofinanzierung von Projekten zur Politik. Ein cleverer Kurzfilmregisseur wie Veit Helmer weiß das Entgegenkommen zu nutzen: Zusätzlich zu der deutschen Auswertung verkaufte er die Senderechte seines Achtminutenfilms „Fensterputzer“ siebenfach in Europa. „Ich mache, was ich will“ meint der 27jährige, dessen Filme elastisch und scheinbar mühelos den Spagat zwischen Anspruch und Unterhaltung schaffen. Helmer macht nicht nur die charmantesten Filme mit einem fast zärtlichen Kontakt zu Mensch und Material, sondern ist ein Wunder an Dynamik, was den Einsatz für seine Filme anbelangt. Kino, Fernsehen, Travel-Entertainment, Galerien, CD-ROM: Die Kids der Medienrealität wissen die neuen Vertriebsformen ohne Berührungsangst zu nutzen. „Vom Fernsehen – da freue ich mich – gibt es einen schönen Scheck. Ich mache Kino und lebe vom Fernsehen.“

Konstitutiv für ein neues Interesse und vor allem Verständnis des Kurzfilms waren die Metamorphosen der kurzen Form im Fernsehen selbst. Vieles, was uns heute von Videokünstlern an ausgezeichnet gemachten Werbe- und Musikclips geboten wird, entspricht dem experimentellen Kurzfilm der 60er Jahre. Einem durchschnittlichen Rezipienten in den 50ern wäre die weder diskursive noch lineare Erzählstruktur der Spots schlichtweg undursichtig geblieben. Nicht zuletzt dadurch wird der Kurzfilm in den Kinos wieder so populär: Er fußt gemeinsam mit den Clips, die einstmals seine Ästhetik okkupierten, auf der modernen Medienrezeption und den dadurch geprägten Rhythmen und Wahrnehmungen des Lebens. Das Subjekt vor dem Fernseher wie auch im Kino versteht sich darauf, in Bruchstücken wahrzunehmen.

Was den einen Verlust sein mag, ist den anderen Gewinn. So ist der Kurzfilm „Twilights“ von Tengai Amano – eine komische Geschichte über Leben und Tod – wie ein Senkbeil, das in wenigen Minuten durch hochkomplexe Schichten von Symbolen, Historien, Gefühlen und ästhetischen Sensationen fährt. Der Konzentration auf das Fragmentierte, in dem sich die Welt in Zehntelsekunden ins Bild setzt, entspricht beim Zuschauer die erhöhte Erregbarkeit und Hingabe, die er sich für den Kurzfilm gerne abverlangt, für ein 220-Minuten-Epos jedoch nicht. Den Erfahrungen des bekanntermaßen gebeutelten modernen Subjekts, das ohne fest definierte Identität schneller leben und zersplitterter wohnen muß, kann sowohl formal als auch inhaltlich im Kurzformat entsprochen werden. Der finnische Kurzfilm „Oppe & Nere“ von Antonia Ringblom ist eine solche phantasievolle Visualisierung der Innenwelten. In der gemalten Animation begegnet der Zuschauer neben dem Exhibionisten, dem Schweinehund und dem Mondanbeter all jenen dramatis personae, in die der Mensch sich im Geheimen so gerne aufteilt.

Wer eine solche Perle an Kurzfilm gefunden hat, fühlt sich wie Kenneth Anger als kleiner Junge: Ihm steckte einst die Großmutter – eine Kostümbildnerin der Stummfilmzeit – einen Knopf des großen Rudolpho Valentino zu.