Stets graziöse Sprünge über die Grenzen

Die Figuren des in Berlin lebenden bulgarischen Autors Ivan Petrov entziehen sich der Realität  ■ Von Liljana Georgieva

Der bulgarische Schriftsteller Ivan Petrov, geboren 1961 in Gabrovo, schreibt seine Geschichten auch nach fünf Jahren in Berlin noch auf bulgarisch. Sie ereignen sich im Irgendwo und führen ins Irgendwo-anders hin, Ende offen. Bei Petrov ist die Literatur kein Abbild: Die überdeutlichen Reviermarkierungen, als Lokalkolorit ausgegeben, die für den sozialistischen Realismus ein Muß waren, fehlen in seinem Schaffen. Bei Petrov riecht es selten nach Bulgarien – die Wirklichkeit wird mehrfach destilliert.

Abgrenzungen gegen fremde Einflüsse seien für ihn sehr relevant, sagt Petrov im Gespräch, sie sollen die Eigenständigkeit nicht beeinträchtigen. So kämpft er auch mit puristischer, manchmal übertriebener Sensibilität gegen Fremdwörter im Bulgarischen. Das Subjekt seiner Werke ist jedoch der Mensch, der in sich die Grenzenlosigkeit entdeckt hat. Auf diesen Widerspruch aufmerksam gemacht, zuckt der junge Bulgare nur mit den Schultern. Petrov war Englischlehrer für private Studentengruppen, und er glaubt, gerade dieser Umstand wurde ihm zum Verhängnis bei den Ausländerbehörden in der Heimat. War das alles aber nicht „vorher“? Der Schriftsteller hat offenbar seit jungen Jahren zuviel gelitten, um ein vorsichtiges, langsames „Nachher“ – nach der Wende – annehmen zu können. Hinter Petrovs Werk steht ein Wunschtraum – die totale Öffnung seines Landes. Dieser Prozeß, der in der Realität schwierig und widersprüchlich verläuft, wird in Petrovs literarischer Welt übersprungen. Wie durch Magie in ein neues Zeitalter versetzt, leben da Jack und John, Nina und Franziska, oder einfach SIE und ER. Es sind Leute, die sich nicht mehr auf herkömmliche Weise streiten, streifen, streicheln können. Dennoch ist viel Liebe im Spiel. Der Haß und seine Folgen werden wie im bisher einzigen Roman von Petrov, „Der Wächter des Herzens“, meist im Off gelassen. Petrovs Personen können nicht mehr zusammenbleiben oder sich trennen. Es sind Menschen, die unterwegs sind, sie werden also irgendwann auch von sich selbst Abschied nehmen müssen... Bis zu diesem Punkt können sie aber um so intensiver in Treue leben. Das Motiv der Treue erklingt immer wieder, allerdings mit veränderter Tonalität. In „Die Jahre“ ist es die Treue des Sohnes zur sehr alten Mutter, die er zeitlebens begleitet hatte, bis zuletzt. Während sich die Brust der Sterbenden immer langsamer hebt, bleibt er in nächster Nähe, bis sie hinübergegangen ist – in die Ruhe.

Ein Lieblingsthema von Petrov ist die ständige Mutation des Lebens. Er kann aber auch makaber komisch sein, wie in der besonders gelungenen Groteske „Der Umzug“: die Begegnung der Verliebten ergibt eine Möbiusschleife – zwei Geschicke „verdrehen“ sich gleichsam ineinander. Petrovs Figuren „umtanzen“ sich, sie begehen nicht den Irrtum, sich halten zu wollen. Genausowenig versucht seine Sprache etwas festzunageln, sie tanzt mit. – Häufiges Motiv ist auch die Kunst, der Geschichte zu entschlüpfen, nicht in ihre Absurditäten und Fallen zu treten, den Zwangsmutationen durch Eigensteuerung zu entgehen. Boris, der Romanheld von „Der Wächter des Herzens“, wird ständig verfolgt, nimmt aber mit graziösen Sprüngen die meisten Hürden des Lebens. Auch die Helden anderer Werke wollen gleichsam dem Leser das Fliegen über Mauern und Grenzen beibringen. Wie ein Trickkünstler läßt Petrov seine Personen, die eben noch wie aus Fleisch und Blut vor uns standen, unmerklich in imaginäre Lebensräume entschweben. Mal schlagen sie da Kapriolen nur als Lichtwesen, mal agieren sie als „echte“ eigene Doppelgänger in der Zukunft. Landschaften, auch seelische, die fest umrissen schienen, verändern ihre Konturen, neue Ebenen öffnen sich... Hinter mancher kleinen Fabel versteckt sich eine tiefere Aussage, manchmal sogar eine zweite Story.

Mehrere Werke des bulgarischen Schriftstellers, wie „Die Briefe, die Stadt“, „Die Aufdringlichen“ und „Das Fenster“, sind soziale Grotesken, die mit den Mitteln der Science-fiction arbeiten. Doch Petrov würde diese Bezeichnung kaum mögen, da es ihm vor allem um die Erkundung innerer Dimension geht, weniger um Space-Ausflüge im üblicheren Sinne. Ivan Petrov ist ein Künstler der wenigen Striche, er baut kurze Erzählungen mit kurzen Sätzen. Sie zeichnen sich durch angenehme Einfachheit aus, aber wir wissen, der Schein muß trügen! Der Schriftsteller stellt keine Prognosen. Er trägt – Spaß muß sein – dem Chaos Rechnung und malt Mandelbäumchen aus Sprache.

Ivan Petrov kam 1990 als Asylbewerber nach Berlin. Inzwischen sind fünf Jahre vergangen. In dieser Zeit hat er einige exterritorial anmutende Geschichten geschrieben, die die Erfahrungen in einer Weltstadt wie Berlin verarbeiten. „Die Augenzeugin“ – eine alleinstehende Frau, die sich nur in Telefongesprächen „verwirklicht“, die so viel Angst vor dem Leben hat, daß sie sofort den Kontakt abbricht, wenn ihr jemand mal ein Treffen vorschlägt. „Das Fenster“, eine makaber-ironische Apotheose des „Knisterns“ als Lebensinhalt, und „Franziska“ sind Erzählungen, die typisch berlinische Lebenssituationen wie Vereinsamung beleuchten.

Dem Berliner Publikum ist Petrov durch mehrere übersetzte Texte in Zeitschriften und drei Lesungen bekannt. Außerdem waren Auszüge aus seinem Werk im Frühjahr im Deutschlandradio Berlin zu hören. Seine Übersetzerin Sybille Pommerenke bereitet einen Sammelband mit Erzählungen vor. Momentan arbeitet der junge Erzähler an seinen literarischen Mandelbäumchen unter dem Mammutbaum in Nachbars Garten. Der in diesen Graden äußerst seltene Mammutbaum hat tiefe Wurzeln in die Berliner Erde geschlagen. Daß er nicht abgehackt wurde, wie von den Behörden vorgesehen, haben der grüne Riese und alle seine Freunde ausschließlich dem erfolgreichen Kampf der Berliner zu verdanken. Ob der Schriftsteller wohl auch in Zukunft darunter schreiben kann?