Seid ihr Dichter? Nein, Autoren!

■ Lesung im Goth-Ambiente – russisch baden im Wannsee

Wer den ganzen Tag gelesen hat, den treibt es abends auf die Straße, aber doch nicht in eine Lesung! Vereinsamte Literaturfreunde haben dort wenig Chancen, ihren Bekanntenkreis zu vergrößern. Das ist nicht anders als in Literaturwissenschaftseminaren oder im Kino. Die Hoffnung, Literatur würde zum sozialen Ereignis, geht nur selten auf. Letzten Dienstag zum Beispiel lasen die russischen Schriftsteller Jerofejew und Sorokin im Literarischen Colloquium. Nachdem die LCB-Programme lange als Fächer gewedelt worden waren, nachdem Zuhörer und Vorleser genug Weißwein getrunken hatten, glitt eine Zahl von Leuten, denen die letzte S-Bahn längst davongefahren war, gemeinsam in den dunklen Wannsee. „Wie ein rrussischerr Abend!“ rief Jerofejew immer wieder.

Auch die Schriftsteller Richard Sivél und Markus M. Liske stören sich an der Steifheit des Leserituals. Da zu Lesungen Unbekannter kaum jemand erscheint, gehen sie dorthin, wo die Leute sind – in die Kneipe. Und auch ihre Themen sind von nebenan: Großstadtexzesse, Wohnungsnot, Träume vom Insekten-Essen. Doch ihre Idee, Zuhörer abseits von der In-crowd zu erreichen, verwirklichen sie dann doch nicht. Warum nicht in einer Schultheiss-Schwemme lesen? Das KdW in der Neuen Schönhauser Straße ist auch wieder eine Szenekneipe. Dort sind die Wände mit Goth-Monstern bemalt, deren Nasen, Krallen und zerfranste Ohren als sorgfältige Gipsarbeiten aus der Mauer treten. An der Decke pendelt eine ledrige Flugechse. Es läuft der Soundtrack der Rocky Horror Picture Show. Leider ist das schöne Bild nach einer Minute dahin. „Seid ihr die Dichter?“ frage ich zwei Endzwanziger in Schwarz. „Naja, Autoren!“, antworten sie, obwohl sie sich später auf Baudelaire berufen.

Die meisten Lesungen sind hochritualisierte Veranstaltungen, die nach dem immergleichen Muster ablaufen. Der Schriftsteller betritt den murmelnden Saal in leicht gebeugter Haltung und von den meisten unbemerkt. Ungern setzt man ihn auf ein Podium – er soll in unserer Mitte sein. Gibt es ein Mikro, funktioniert es nicht, gibt es keines, peitschen sofort aggressive „Lauter!“-Rufe durch den Saal. Und dann mit der Tür ins Haus: sofort der erste „Text“. Ein wenig peinlich wird es manchmal, wenn die Lesenden die friedlichen Rezipienten plötzlich mit Gebrüll, imitierten Tierlauten oder Maschinengeräuschen aufschrecken.

Ganz ähnlich läuft es im KdW, auch wenn dann und wann einer rülpst. Es bedarf offenbar schon noch mehr als eines etwas ungewöhnlichen Orts, um mit einer Konvention zu brechen. Die quietschende Stahltür öffnet sich immer wieder. Manche wollten nur ein Bier trinken und fühlen sich durch den Vortrag gestört, andere suchen die Quelle des durch die Mauer dringenden Techno. Vielleicht liegt es auch an den braven Texten, die die beiden im Kerzenlicht vortragen. Sowohl die kleinen Texte des „Quaternionisten“ Sivél, als auch der zweiseitige „Gescheiterte Vereinigungsroman“ von Markus M. Liske (Künstlergruppe „Post Post Blauer Berber“) stoßen eben nur auf die übliche freundliche Zustimmung. Jörg Häntzschel