Eine Empfehlung zur Stadtflucht

■ In dem kleinen polnischen Städtchen Lubniewice ist vieles noch beim alten geblieben / Im Schloßgarten wartet noch immer ein Schatz auf seine Entdeckung

Östlich der Oder ist die Welt noch eine andere. Die Fahrt geht über den Fluß und zurück in die Vergangenheit, vorbei an wenigen kleinen Ortschaften, einer Vielzahl von Seen und Tümpeln, durch viel, viel Kiefernwald. Dann taucht – 50 Kilometer entfernt vom polnischen Grenzort Küstrin – zwischen den Baumwipfeln ein roter Turm auf. Es ist der Schloßturm gleich neben dem kleinen Örtchen Lubniewice, dem früheren Königswalde.

Unter einem bröckelnden Torbogen hindurch, der scheinbar nur durch ein wildes Pflanzengeflecht vor dem Einsturz bewahrt wird, führt der Weg zuerst vorbei an den Pferdeställen. Drinnen wiehern die Gäule, draußen stehen hübsche alte Wagen und warten darauf, gezogen zu werden. Vor dem Schloßportal parken hingegen motorisierte Karossen – zumeist mit deutschen Kennzeichen.

Das Anfang des Jahrhunderts gebaute Schloß dient seit kurzem als Hotel. 50 Zimmer sind zu vermieten, einzelne werden gerade generalüberholt. Aber nicht Arbeitslärm, sondern Musik klingt leise durch die hohe, mit dunklem Holz getäfelte Eingangshalle. Vivaldis Jahreszeiten: Sommer. Vom Kaminfeuer ist nur noch die alte Asche übrig. Durch die Fenster kommt die Sonne herein, und sie spiegelt sich draußen auf dem Wasser des kleinen Sees.

Die Gänge in den oberen Stockwerken liegen derweil verlassen. Rechts und links reiht sich Zimmertür an Zimmertür. Spärlich beleuchten ein paar Lampen die schmucklosen Wände, zwei alte Kachelöfen sind die einzigen Überbleibsel aus früherer Zeit, denn nach Kriegsende wurde das Schloß ausgeräumt und diente als Ferienheim für Kinder. Fast sämtliches Schloßmobiliar lagert seitdem eingepackt in Museumskellern.

Eine enge Treppe führt hoch zum Schloßturm. Der alte Schloßherr von Waldow hat den Turm nachträglich bauen lassen, vermutlich nicht nur um nach Seeadlern und anderem Getier Ausschau zu halten, sondern auch um seine Tochter, die in dem nahe gelegenen Schlößchen Rogi wohnte, im Auge zu behalten. Sei es, daß der Turm zu niedrig geriet, sei es, daß die Bäume mächtig emporwuchsen, heutzutage strengt man vergeblich die Augen an, um etwa zehn Kilometer weiter in nördlicher Richtung den ehemaligen Wohnsitz des Töchterchens – fast ein Duplikat des väterlichen Schlosses – zu erspähen.

Den letzten Gang den Schloßturm hinauf tat von Waldow vor 50 Jahren unfreiwillig auf der Flucht vor russischen Soldaten, bevor er oben erschlagen und dann in den Garten hinabgeworfen wurde. Immerhin soll er noch zuvor sein Gold und Silber vergraben haben. Russen und Polen haben schon nach dem Schatz gebuddelt, aber vergeblich. Mit erprobten Führern und Wünschelruten ziehen jetzt regelmäßig die Hotelgäste los, um mit einem Schlag reich zu werden. Fündig geworden ist noch keiner.

Ein paar Treppenstufen führen zum Ufer hinab. Der Weg um den See ist freilich etwas länger: Zwei Stunden dauert der Spaziergang im Schatten der weit ausladenden Baumkronen. Hie und da sitzt ein einsamer Angler auf einem der zahlreichen Bootsstege. Eine wacklige Holzbrücke führt über das Wasser und hinüber in den Ort, der gemeinsam mit dem Schloß zu neuem Leben erwacht.

In der herausgeputzten Touristeninformation herrscht einiger Andrang, und auch auf den Straßen geht es lebhafter zu als noch vor wenigen Jahren. Wo einst Autos parkten, ist jetz ein netter Marktplatz mit einem Brunnen und der Schutzpatronin des Städtchens in der Mitte. Die Heilige gab sich einst, wie Gott sie geschaffen hatte: nackt. Um sie aber vor den Blicken der immer zahlreicheren Neugierigen zu schützen, haben ihr die Einheimischen ein langes hochgeschlossenes Kleid angezogen. Holger Heimann