"Blavatzkys Kinder" - Prolog (Krimi)

Prolog

Das Baby schrie mit dünner Stimme. Es kniff die Augen zusammen. Sein kleines Gesicht glänzte rot vor Anstrengung, und blaßblaue Adern schimmerten durch die Haut an seinem Hals, der so dünn wie der eines Kätzchens war und zwischen Mittelfinger und Daumen des Mannes paßte. Der Mann drückte die beiden Finger langsam zusammen. Das Schreien erstickte zum Wimmern und verstummte. In diesem miesen Zustand war das Kind ohnehin für nichts zu gebrauchen; sie hätten es nicht gekauft, dachte der Mann. Er stopfte den schlaffen kleinen Körper unter seine Winterjacke und zog den Reißverschluß zu. Die anderen, drei Frauen und sieben Kinder, gingen etwa dreihundert Meter vor ihm durch den Wald.

Er betrachtete den Boden und überlegte, ob er sein Opfer gleich hier verscharren sollte. Die Erde war weich, es gab genug Laub und Steine. Aber die jüngste der drei Frauen löste sich aus der Gruppe vor ihm. Er kontrollierte, ob er den Reißverschluß geschlossen hatte.

„Gib mir das Kind“, sagte die Frau. Sie wollte den Säugling stillen.

„Nein. Es schläft. Wir sind zu nahe an der Grenze. Du weckst es auf, dann schreit es, und sie erwischen uns.“ Sie gab nach. Solange es schlief, brauchte sie sich keine Sorgen zu machen. Ihr Anführer war ein unfreundlicher Mann, aber vielleicht mochte er Kinder, dachte sie.

Seit sie kurz vor der Grenze auf der Flucht vor einem Hund einen Abhang hinuntergestolpert war und sich das Handgelenk gebrochen hatte, trug der Mann das Kind. Die Hand der Frau war notdürftig geschient. Mullbinden und Stöckchen sollten die Knochen in der richtigen Lage halten. Sie hatte Schmerzen.

Der Mann hatte die Gruppe aus Ungarn über die Grenze geführt. Die Kindertransporte brachten ihm viel Geld ein, trotzdem zog er erwachsene männliche Flüchtlinge vor. Sie waren kräftiger und viel schneller als die Kinder. Kinder wurden rasch müde und quengelten, aber sie brachten viel mehr Geld ein als ein normaler Flüchtling, der für die Fluchthelfer sein Sparkonto geräumt hatte.

Er kassierte fünf- bis zehntausend Mark für jedes Kind. Er liebte Kopfrechnen. Wie schnell würde er reich werden, wenn er es schaffte, im Jahr hundert Kinder über die Grenze zu bringen? Einhundert mal... siebentausendfünfhundert ...siebenhundertfünfzigtausend harte deutsche Mark. Hundert Kinder im Jahr machte etwa acht im Monat. Ein bis zwei Touren. Er müßte neue Grenzübergänge ausprobieren. Aber würden sie ihm so viele Kinder abnehmen?

* * *

In HÛdÛreni, rund sechzig Kilometer entfernt von der mittelrumänischen Stadt Tirgu Mureș, lebten etwa zweitausend Menschen, unter ihnen einhundertsiebzig Roma. Durch das Dorf wand sich die Hauptstraße, nur sie trug einen Namen.

Am Abend des schönen, sonnigen Tages im späten September strahlten die Mauern der Häuser die tagsüber gespeicherte Wärme ab. Die Menschen erholten sich von der Arbeit. Drei junge Roma standen auf der Hauptstraße: die Brüder Lupian und Aurel LÛcÛtuș, zwanzig und zweiundzwanzig Jahre alt, und ihr Freund Usca Moldovan, siebenundzwanzig Jahre. Ah, da kam sie wieder vorbei. Lupian stieß Usca in die Seite. Sah sie nicht wirklich schön aus? Ihr Lachen, ihr Haar, ihr Gang. Usca freute sich schüchtern. Er mochte sie und redete gern mit ihr. Gut gelaunt rief er: „Eh, guten Abend, Schöne!“

Seine Freunde echoten: „Guten Abend, wie geht es dir, Schöne?“

Die junge Frau drehte sich um und lachte.

Ein alter Mann, der an seiner Haustür lehnte, regte sich furchtbar auf: „Was fällt euch ein, unseren Frauen nachzurufen?“ Die drei ließen sich die gute Laune nicht verderben und machten sich über den zeternden Alten lustig.

„Wieso sind das eure Frauen? Wir wohnen doch alle hier. Sei ruhig, alter Mann. Es ist ein so schöner Tag.“

„Das wird euch noch leid tun!“

Als der Alte weiterschimpfte, wurde Usca ärgerlich: „Hör auf, uns zu drohen.“

Die heitere Stimmung war verflogen, und die drei wandten sich ab, um nach Hause zu gehen. Der Alte hörte nicht auf, zu schreien und zu schimpfen. Seine beiden Söhne rannten zusammen mit ihrem Freund Ghetan CrÛciun aus dem Haus. Sie fragten nicht, was geschehen war. Sie trugen Heugabeln in ihren Händen, lehnten diese an den Baum und stürzten sich auf die drei Romamänner.

„Ihr Scheißzigeuner. Laßt unseren Vater in Ruhe!“

„Aber wir haben ...“

Fortsetzung folgt