"Blavatzkys Kinder" - Teil 3 (Krimi)

Teil 3

Wo war Gherge? Sie machte einen Bogen um die Meute. Ihr neues Haus stand am Rand des Dorfes. Ihr Mann war nicht dort. Voller Angst nahm sie ihren drei Monate alten Sohn Rjako aus seiner Wiege, packte hastig etwas Geld, Papiere, zwei Decken und ein wenig Kleidung ein, warf sich einen Mantel über und rannte mit der Nachbarsfamilie aus dem Dorf – weg von den Flammen und dem Geschrei.

Einhundertsiebzig Roma hatten in zweiunddreißig Häusern in HÛdÛreni gelebt. Am Ende des Tages hielt sich kein einziger Roma mehr im Dorf auf. Fünf Menschen waren tot, die anderen geflohen.

In der ersten Nacht versteckten sie sich in den umliegenden Maisfeldern. Soliza beobachtete von weitem, wie ihre ehemaligen Nachbarn ihre Häuser plünderten und Kleider, Fernsehgeräte, Videorecorder, Möbel, Bilder und Geschirr wegschleppten. Und wie oft sagten sie, wir Zigeuner wären Diebe, dachte sie bitter. Was waren das für Menschen?

Soliza suchte ihren Mann. Sie fand ihn schließlich im Totenraum des Krankenhauses von Luduș. Er war dort mit einem der erschlagenen Brüder aufgebahrt. Sie sah ein großes, verkohltes Stück Fleisch und erkannte Gherge, den sie geliebt hatte, nur noch an seinem Ehering. Sie übergab sich im Hof des Krankenhauses.

In den nächsten Tagen lebte Soliza im Park von Luduș. Sie schlief wenig, fror und hungerte. Das Kind weinte viel. Die Nahrungsmittel, die sie zusammengerafft hatten, wurden knapp. Als sie erfuhren, daß nun ständig Polizei in HÛdÛreni patrouillierte, hofften einige, wenigstens ihr Vieh von der Weide und aus den Ställen holen zu können, um es zu verkaufen oder zu schlachten. Dann hätten sie etwas zu essen und vielleicht etwas Geld, um die Gegend zu verlassen, irgendwo anders hin, wo sie ohne Angst leben konnten.

Aber die Polizei schützte das Dorf vor den Rom. Wer sich in die Nähe seines Hauses wagte, wurde verprügelt. Menschen, mit denen Soliza aufgewachsen war, frohlockten, weil die Zigeuner endlich vertrieben würden. Ihr Vieh war längst im Dorf verteilt. Der erstochene Ghetan CrÛciun wurde bei der Beisetzung wie ein Märtyrer geehrt.

* * *

Die Ameisen trugen einen toten, fett glänzenden Käfer über den Holzfußboden. Sie schleppten ihn mühsam in schleifenförmigen Bewegungen vorwärts. Robert kniff die Augen zusammen und blinzelte durch die Wimpern. Die Ameisen verschwammen im Nebel.

Der Transport beschrieb eine leichte Kurve und bewegte sich in Richtung Zimmerwand. Ein zu kurz gesägtes Brett öffnete einen Schlund zwischen Fußboden und blümchentapezierter Wand. Dahinein stürzten Trägerinnen und Beute. Einen Augenblick lang sah Robert McLeod nichts mehr.

Dann schob sich der Kopf des Käfers langsam aus dem Loch die Wand empor. Die Ameisen schienen ihn regelrecht hochzustemmen. Die Insektenleiche verfing sich in einer Tapetenfalte und stürzte zurück ins Loch.

Als Robert später aufstand, lange geduscht und sich ausgiebig gestreckt hatte, um seine Rückenschmerzen zu mildern, blickte er in das schmuddelige Loch im Boden. Das tote Insekt existierte nicht mehr. Freßorgie beendet.

Diese ganze verdammte Reise war ein Fehler. Robert wußte schon am ersten Tag wie der vierte Tag, der fünfzehnte und schließlich der letzte aussehen würde. Er war unzufrieden mit sich. Meistens überlegte er sich seine Aktionen gründlicher. Wieder einmal hatte ihn diese sonderbare Unruhe, diese irritierende Mischung aus Beklemmung und Neugier überfallen, und er war aus Hamburg abgereist. Meistens genügte ein Trip an die Nordsee.

Diesmal war Hamburg lange Wochen besonders grau und naß gewesen. So hatte er eines morgens seinen Reisesack gepackt und war mit seinem Auto ziellos in Richtung Süden gefahren. Einige hundert Kilometer entschied er nicht, was sein Ziel sein sollte. Dann überquerte er bei Passau die deutsche Grenze und besuchte einen alten Freund in Wien. Nach zwei Tagen fiel ihm auch dort das Dach auf den Kopf, und seine Unruhe trieb ihn weiter – nach Ungarn, immer weiter nach Südosten, bis es dunkel wurde.

Irgendwann nachts konnte er seine Augen kaum mehr offenhalten. Als er sich dabei ertappte, daß er die Rücklichter eines Lkws für ein offenes Lagerfeuer hielt und fast in den Straßengraben gerutscht wäre, nahm er sich ein Zimmer im nächsten Hotel.

Das angeblich einzige freie Zimmer roch schäbig. Sein bestes Zimmer, hatte der Geschäftsführer geprahlt, mit eigener Dusche und einem Klo mit Deckel. Aber das Wasser in der Dusche war kalt, die Klospülung tröpfelte die ganze Nacht. Die Bettwäsche war nicht gewechselt worden – sie stank.

Fortsetzung folgt