Eine innere Welt

■ Meisterin der winzigen Wahrnehmungen: Nathalie Sarraute, Frankreichs berühmteste Autorin, wird heute 95

Nathalie Sarraute wurde als Nathalie Cerniak in Ivanovo-Vosnesensk in Rußland geboren. Mit 8 Jahren kam sie nach Paris, wohin ihr Vater als Gegner des zaristischen Rußland fliehen mußte. Sie studierte Anglistik und Jura und arbeitete bis 1937, wie ihr Ehemann Raymond Sarraute, als Rechtsanwältin. In den dreißiger Jahren begann sie zu schreiben, 1939 erschienen die „Tropismen“, die eine Revolution des Erzählens einläuteten. Sarraute verwendete alltagssprachliche Fetzen, Geschwätz, Klatsch als ästhetisches Material und löste die herkömmlichen Instanzen der Erzählung – Psychologie, Charakterschilderung, Handlung, zugunsten eines sprachlichen Panoramas der Innenwelt auf. 1941 mußte Sarraute aus dem von den Deutschen besetzten Paris fliehen. 1943/44 tauchte sie unter dem Namen Nicole Sauvage in der Provinz unter. In den fünfziger Jahren wurde sie mit Alain Robbe-Grillet, Claude Simon und Michel Butor zu den „Nouveaux Romanciers“ gerechnet, wogegen sie sich immer verwahrt hat. Nathalie Sarraute hat stets zurückgezogen gelebt und nur wenige Freundschaften gepflegt, unter anderem mit Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir. Seit den fünfziger Jahren hat sie zahlreiche Reisen in die UdSSR, nach Schottland, Italien, Deutschland und die USA unternommen. Zu ihren bekanntesten Werken gehören die Romane „Porträt eines Unbekannten (1948) und „Martereau“ (1953) und die Essaysammlung „Zeitalter des Argwohns“ (1956). Zuletzt sind von ihr bei Kiepenheuer & Witsch erschienen: „Kindheit“ (1984) und „Du liebst dich nicht“ (1992).

taz: Frau Sarraute, Sie schreiben am liebsten in der Öffentlichkeit, in einem libanesischen Café in Paris.

Nathalie Sarraute:Es verkehren viele Libanesen dort, weil es in einem entsprechenden Viertel liegt, aber es ist eigentlich ein französisches Café, in dem gewürfelt wird. Ich liebe es sehr, dort zu schreiben. Ich höre nicht hin, wenn sie sich unterhalten, und beobachte niemanden. Mir fehlt stets die Lust, mit Schreiben anzufangen. Dort bin ich dazu gezwungen, außerdem fühle ich mich wohler, weil ich nicht alleine bin, das Telefon nicht klingelt und niemand an der Tür klopft. Ich bin wie in der Fremde, wo ich mich besser konzentrieren kann. Es reicht mir, daß ich irgendwo bin, wo man mich in Ruhe läßt. Es ist eine Art, mich zu isolieren, ohne einsam zu sein.

Sie haben oft gesagt, daß das Schreiben für Sie Leiden sei.

Ja, aber wenn ich nicht schreibe, habe ich das Gefühl, nicht zu leben. Das ist, als wenn ich auf einmal nicht mehr atme. Fange ich dann aber zu schreiben an, beginnen die Probleme. Ich neige dazu, mich viel zu kritisieren. Was mir keine Schwierigkeiten bereitet, spornt mich nicht an. Es reizt mich mehr, was sich mir entzieht.

Wie kamen Sie überhaupt zum Schreiben?

Der Gedanke war nicht von Anfang an da. Es begann 1932 mit den „Tropismen“.

Hat Ihre Idee der „Tropismen“ etwas mit Marcel Prousts Konzept der „memoire involontaire“ zu tun?

Hören Sie, ich bin unfähig, das von außen zu beurteilen und mich mit Proust zu vergleichen. Ich verlor keinen Gedanken daran, ob ich Proust fortsetzen oder ihn überwinden wollte.

Aber Proust bedeutet Ihnen doch viel?

Es hat mir ein Universum aus winzigen Wahrnehmungen eröffnet, später löste James Joyce Ähnliches aus. Ich brauchte sie, um selbst zum Schreiben zu kommen. Literatur entwickelt sich wie Malerei oder Musik. Es gibt Menschen, die einem einen Weg vorausweisen. Mir geht es mit den Tropismen um winzige Augenblicke und innere Empfindungen, für die ich Rhythmen und Bilder suche. Sie sind zuvor noch nicht oder nur beiläufig als das, was sie sind, dargestellt worden. Ich mußte eine eigene Form finden.

Warum gaben sie dieser Literatur den biologischen Namen „Tropismus“?

Weil es sich um Bewegungen handelt, die nicht der Kontrolle unseres Willens unterstehen, hervorgerufen durch äußere Einflüsse, durch Sprache oder die Anwesenheit von etwas anderem. Um das wiederzugeben, benutzte ich das Wort „tropisme“, denn ich wollte diese ganz und gar instinktive, ununterdrückbare Seite herausheben.

Wenn Sie Sprach-Klischees verwenden, liegt darin eine Kritik der Unaufrichtigkeit der Alltagssprache?

Mich interessiert nicht das Klischee an sich, wie etwa Eugène Ionesco. Ich will aufzeigen, was dahinter liegt, also die inneren Bewegungen, die dem vorausgehen, was sich als Klischee festsetzt.

Sie lehnen es ab, Bezeichnungen wie „der Geizige“ oder „der Egoist“ verwenden, um Personen zu charakterisieren.

Ja, weil sich damit etwas Äußerliches verbindet. Es sind aufgesetzte, angeheftete, sehr plakative und alles vereinfachende Bezeichnungen. Alle meine Bücher zielen auf das Zeigen einer komplexen Welt, die auftaucht, wenn man die Augen öffnet und sich fragt, was das denn sei, ein Geiziger. Im Alltag ist man dazu gezwungen, solche Worte zu verwenden, um sich zu verständigen. Mir aber liegt an dem, was sich unter der Oberfläche an undefinierter Komplexität offenbart. Die Literatur ist für mich kein Bild, kein Bericht, keine Repräsentation realen Lebens.

Ihr Buch „Kindheit“ (1983) ist aber ein Erinnerungsbuch.

Es ist keine Autobiographie, da ich nichts von Eltern erzähle, nichts von alledem, was mein Leben erklärt. Erinnerung selbst ist etwas Äußeres, was mich nicht interessiert. Ich will jene Momente meiner Kindheit wiederbeleben, die „Tropismen“ ähneln.

Verstehen Sie sich als eine Art Detektiv der Seele im Sinne Sigmund Freuds?

Kommen Sie mir nicht mit Freud! Ich habe nie an seine Analyse gedacht, denn ich verabscheue sie. Sie behindert mich bei meiner Arbeit. Ich will nichts zu tun haben mit der Entdeckung des Unbewußten. Ich weiß gar nicht, was ich da finden soll. Mit dem Ödipuskomplex und diesem ganzen Kategorienkram habe ich nichts zu schaffen.

Glauben Sie, daß die Literatur unsere Art zu sehen verändern kann?

Es ist keine Literatur des Sehens, eher des Fühlens. Es geht um das, was man spürt. Ein Blick schafft stets Distanz, bei dem, was ich zeige, fällt diese weg. Man fühlt es. Sie berühren etwas Heißes, das brennt, und spüren die Verbrennung. In der Liebe, da empfangen Sie etwas sehr Starkes. Sie haben keinen Blick für das, was mit Ihnen passiert. Sie befinden sich nicht außerhalb; je stärker Sie es empfinden, um so weniger sind Sie in der Lage zu sagen: Bitte sehr, das und das spüre ich gerade. Grundsätzlich mag ich keine Didaktik. Allenfalls könnte es sein, daß meine Leser auf eine innere Welt treffen, die von ihnen zuvor ignoriert wurde, mehr nicht. Ich will weder etwas verändern noch irgend etwas beweisen. Ich behaupte nicht einmal, daß wir uns ändern müssen.

Unsere „Tropismen“ lassen sich nicht beeinflussen?

Es sind Empfindungen, die durch uns hindurchgehen, ob wir wollen oder nicht. Das zu zeigen, heißt nicht irgendeine Lektion zu erteilen. Es ist etwas Instinktives, das da passiert. Wenn Sie mir etwas sagen, woraufhin ich erröte, habe ich keine Zeit, zu überlegen, warum. Es passiert. Unmöglich, es zu verhindern. Ich zeige, was bei einem ausgelöst wird, wenn einer einem sagt „mein Kleiner“; und es interesssiert mich, was Tschechow wohl empfand, als er auf deutsch sagte: „Ich sterbe“. Wie es dazu kam, will ich wissen.

Bleibt bei Ihrem Konzept ein Platz für die Freiheit?

Mit solchen philosophischen Fragen befasse ich mich nicht. Die Bewegungen in uns sind weit entfernt von absoluter Wahrheit. Da ist keine Spur von Freiheit zu finden, wenn Ihnen jemand etwas Unangenehmes sagt und Sie reagieren. Ich füge das Drama zusammen, das sich in Ihnen abgespielt hat. Nichts daran läßt sich ändern.

Für Sie zählen Biographien nicht.

Ja, will man ein Leben im Ablauf zeigen, ist man gezwungen, vieles zu verschweigen, das sich nicht sagen läßt. Ich habe deshalb nie probiert, mein Leben zu erzählen. Ich beließ es dabei, innere Bewegungen herauszugreifen.

Eine Biographie wäre also eine Konstruktion gegen das unmittelbare Leben?

Ja, sie verrät die Art, wie jemand gesehen werden möchte oder sich selbst sieht oder wie derjenige, der schreibt, jemanden sieht. Es ist eine uns aufgedrängte Wirklichkeit.

Personen sind Ihnen nicht wichtig.

Ja, denn ich kann an sie nicht glauben. Ich bin sicher, wir fühlen alle die gleichen Dinge, ungefähr. Im Innern, wo diese Bewegungen ablaufen, existiert keine „Person“. Ich kümmere mich nicht um Personen wie die großen Literaten des 19. Jahrhunderts. Nehmen Sie Hitler. Ich wäre als Schriftstellerin allenfalls an den inneren Bewegungen Hitlers interessiert, nicht an seinen Handlungen.

Interview: Heinz-Norbert Jocks