Es kommen härtere Tage

Während die Systemtheorie die soziale Frage und die Fatalität der Technik entdeckt, verlegt sich die Kritische Theorie auf die Beobachtung des Feuilletons. Neue politische Schriften von Niklas Luhmann und Jürgen Habermas  ■ Von Jörg Lau

Kleine Politische Schriften“ werde es von ihm nicht geben, hat Niklas Luhmann in einem Interview vor etwa zehn Jahren verkündet. Das war auf jene Reihe gemünzt, in der Jürgen Habermas, sein gesellschaftstheoretischer Antipode, den deutschen Debatten Stichworte und Argumente lieferte – oft mit nachhaltiger Wirkung: „Die Neue Unübersichtlichkeit“, der Titel von Habermas' „Kleinen Politischen Schriften V“ (1985), wurde in den achtziger Jahren eine Formel von sprichworthafter Allpräsenz im Feuilleton.

Nun sind eben nahezu simultan zwei Aufsatzsammlungen der alten Kontrahenten erschienen, die auf den ersten Blick nicht zum Vergleich einladen: die eine in bewährt spröder Manier „Gesellschaftsstruktur und Semantik“ (Luhmann) überschrieben, die andere, in ebenfalls bewährt kämpferischer Färbung, „Die Normalität einer Berliner Republik. Kleine Politische Schriften VIII“ (Habermas). Wer beide nacheinander liest, wird über diese Etikettierung einigermaßen verwirrt sein: Zweifellos handelt es sich bei Luhmanns Buch nun doch um kleine politische Schriften. Hier geht es um die Schwierigkeiten, die der modernen Gesellschaft durch eine entfesselte Technik entstehen, um die Beschränktheit des nationalstaatlichen Konzepts angesichts weltgesellschaftlicher Probleme, um die Marginalisierung weiter Teile der Weltbevölkerung. Jürgen Habermas hingegen kreist in seinen gesammelten Essays und Interviews um den Umbau der deutschen Gesellschaftstruktur und die ihn begleitenden semantischen Kämpfe.

Habermas bezieht sich in seinem schmalen Band neunmal explizit auf die Gesamttendenz, auf einen Leitartikel, vor allem aber auf Feuilletonbeiträge der FAZ. Man kann den Eindruck bekommen, die im zuverlässigen Rhythmus wiederkehrenden Rekurse auf das akribisch ausgewertete Blatt bildeten den roten Faden der heterogenen Beiträge.

So verdienstvoll es aber auch sein mag, wenn einer sich die Mühe macht, die kleinen Tendenzwenden mitzustenographieren, in denen eine falsche „Normalisierung“ der Bundesrepublik eingeprobt wird – „kleine politische Schriften“ sollten sich nicht in solcher Weise auf die Tagesproduktion des einmal ausgemachten Gegners fixieren. Immer wieder das gleiche Ceterum censeo von der Verwerflichkeit des „– nicht nur im Feuilleton der FAZ – jahrelang ausgefochtenen Kampfs um die politisch-intellektuelle Rehabilitation der großen Jungkonservativen“! Schwer zu verstehen, warum Habermas so an dieser alten Schlachtordnung klebt. Er hat den Kampf gegen die Geschichtspolitik der FAZ doch längst gewonnen. Aus dem von ihm selbst initiierten „Historikerstreit“ ist er als klarer Sieger hervorgegangen, und Ernst Nolte ist unterdessen in seinem ehemaligen Hausblatt längst als der politisch- moralische Zombie dargestellt worden, als den ihn Habermas – allerdings seinerzeit als erster – erkannt hatte.

Wer sich in diesem Band über die politische Lage, wie Habermas sie sieht, informieren will, muß die Geduld mitbringen, einem verdienten Kämpfer zuzuhören, der immer wieder die alten Scharmützel heraufbeschwört.

Da wird man lieber zuerst zu Luhmann greifen, der in seinem Sammelband einige grundlegende Aufsätze vorlegt, von denen drei ganz explizit politische Themen ansprechen: „Über Natur“, „Metamorphosen des Staates“ und „Jenseits von Barbarei“, letzterer das erstaunlichste Stück, das man von Luhmann seit Jahren lesen durfte.

Er versteht „Barbarei“ nicht im herkömmlichen Sinne als Begriff, mittels dessen man äußerstes Mißfallen gegenüber bestimmten Verhaltenstypen bekundet, etwa gegenüber Grausamkeit.

Was ihn interessiert, ist die Bedeutung von „Ausschluß aus der Menschenwelt“, die ursprünglich mitschwang. Luhmann nutzt die Gelegenheit für eine Meditation über die Begriffe Inklusion/Exklusion, die in seiner Gesellschaftstheorie eine wichtige Rolle spielen.

Mit dem „Barbaren“ war am Anfang der Begriffsgeschichte der Gegenpol zum „Hellenen“ bezeichnet. Barbaren waren die aus der menschlichen Gesellschaft Ausgeschlossenen, und ihren Namen hatten sie von den Eingeschlossenen bekommen: „Niemand wird von den Barbaren erwartet haben, daß sie sich selbst als Barbaren beschreiben.“ In modernen Gesellschaften haben solche Etikettierungen scheinbar ihren Sinn verloren, denn hier gibt es keinen Modus des Ausschlusses mehr, den sie bezeichnen könnten. „Barbarisch“ erscheint jetzt nur noch, wer andere als „Barbaren“ behandelt – als von vornherein draußen Stehende. Das funktional differenzierte Gesellschaftssystem kennt nämlich kein Außen mehr, es ist „auf Inklusion der Gesamtbevölkerung angelegt“: „Es gibt keine ersichtlichen Gründe, jemanden von der Verwendung von Geld, von der Rechtsfähigkeit oder einer Staatsangehörigkeit, von Bildung oder vom Heiraten auszuschließen. Bei prinzipieller Vollinklusion aller entscheiden die Funktionssysteme selbst, wie weit es jemand bringt: ob er recht oder unrecht bekommt, ob sein Wissen als wahr anerkannt wird oder nicht, ob es ihm gelingt, im System der Massenmedien Reputation zu gewinnen, also öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, wieviel Geld er ausgeben kann usw.“ Die einzelnen Funktionssysteme, so Luhmann, unterstellen die Bevölkerung als „homogene Umwelt“ und diskriminieren nur noch nach je eigenen Kriterien. Hinzu kommt, daß die Grenzen der verschiedenen Funktionssysteme nicht in eins fallen: „Die Grenzen der Staaten sind keine Grenzen des Wirtschaftssystems, die Grenzen des Systems der Wissenschaft und des Systems der Massenmedien sind ohnehin weltweit konzipiert.“ In dieser Welt ohne Außen ist, so Luhmann, „die Barbarei verschwunden“.

Bis hierher ist noch wenig Neues an den Luhmannschen Überlegungen. Aber dann bahnt sich eine Revision der eigenen Theorie an, die durch eine neue soziale Aufmerksamkeit überrascht: „Zur Überraschung aller Wohlgesinnten muß man feststellen, daß es doch Exklusionen gibt, und zwar massenhaft und in einer Art von Elend, das sich der Beschreibung entzieht.“ Luhmann hat eine Reise getan: „Jeder, der einen Besuch in den Favelas südamerikanischer Großstädte wagt und lebend wieder herauskommt, kann davon berichten. Wir wissen, es ist von Ausbeutung die Rede oder von sozialer Unterdrückung oder von marginalidad, von einer Verschärfung des Gegensatzes von Zentrum und Peripherie. Das alles sind jedoch Theorien, die noch vom Desiderat der Allinklusion beherrscht sind und folglich Adressaten für Vorwürfe suchen: der Kapitalismus, die herrschende Allianz von Finanz- und Industriekapital mit dem Militär oder mit den mächtigen Familien des Landes. Wenn man jedoch genau hinsieht, findet man nichts, was auszubeuten oder zu unterdrücken wäre.“

Wenn solche Theorien versagen, was hat dann Luhmanns eigene von der „funktionalen Differenzierung“ dazu zu sagen? Wenn es nicht die bösen Interessen sind, dann muß der Grund für die massenhafte Exklusion in der Gesellschaftsstruktur selbst gesucht werden. Die Systemtheorie wird unversehens ideologiekritisch in Hinsicht auf ihre eigenen Behauptungen: „Funktionale Differenzierung kann, anders als die Selbstbeschreibung der Systeme es behauptet, die postulierte Vollinklusion nicht realisieren. Funktionssysteme schließen, wenn sie rational operieren, Personen aus oder marginalisieren sie so stark, daß dies Konsequenzen hat für den Zugang zu anderen Funktionssystemen. Keine Ausbildung, keine Arbeit, kein Einkommen, keine regulären Ehen, Kinder ohne registrierte Geburt, ohne Ausweis, keine Beteiligung an Politik, kein Zugang zur Rechtsberatung, zur Polizei oder zu Gerichten, die Liste ließe sich verlängern [...] bis hin zu gänzlichem Ausschluß.“

Finstere Ironie: der Theoretiker der Inklusion muß feststellen, daß ebenjene Gesellschaftsstruktur, die auf das Prinzip des Einschlusses aller setzt, gerade bei rationalem Procedere massenhaften Ausschluß produziert. Früher, und in einem anderen soziologischen Sprachspiel, sagte man Dialektik dazu. „Und wenn man das, was man so sieht, hochrechnet, könnte man auf die Idee kommen, daß dies die Leitdifferenz des nächsten Jahrhunderts sein könnte: Inklusion und Exklusion.“ In anderen Worten: die Systemtheorie entdeckt die neue soziale Frage, und ihre Diagnose ist um so radikaler, als sie keinen schnellen Ausweg weist. Es ist ja die auf Inklusion gerichtete Rationalität der funktionalen Differenzierung selber, die die massenhafte Exklusion hervorbringt – oder mindestens: nicht verhindern kann. Und da helfen auch, wie Niklas Luhmann mit einigem Sarkasmus feststellt, die jüngst wieder in Mode gekommenen alten Begriffe nicht weiter – „wie societas civilis oder communitas, die wir wie Sauerkraut aus unsere Kellern holen, um es aufgewärmt zu genießen“.

„Unlösbare Probleme par excellence“, schreibt Luhmann in einem anderen Beitrag, „heißen heute, ,Werte‘.“ Dieser Beitrag mit dem schlichten Titel „Über Natur“ liest sich wie ein Kommentar zu den Aufregungen um die „Brent Spar“. Der Essay beschäftigt sich vor allem mit der Technik und ihren Risiken, die man nicht allein in den massenmedial interessanten „erwartbaren Großkatastrophen“ sehen dürfe. „Damit wird die Abhängigkeit der Gesellschaft von der Technik nicht zureichend und vor allem nicht radikal genug erfaßt. Technik ist, auf ihr Prinzip reduziert, eine strikte Kopplung kausaler Elemente mit hoher Indifferenz gegen alles andere. Ihre Vorteile liegen in der Wiederholbarkeit der Vollzüge, in der Berechenbarkeit der für den Betrieb erforderlichen Ressourcen und in der Erkennbarkeit von Störungen mit der Möglichkeit, sie durch Reparatur oder Ersatz zu beheben. [...] Reale Systeme, lebende Systeme, aber auch das Gesellschaftssystem, verdanken ihre Stabilität nicht strikten, sondern losen Kopplungen.“ Und das heißt zum Beispiel: „Wie immer basale Techniken eingebettet sein mögen in gleichsam ,naturale‘ soziale Systeme: um die Abhängigkeit der Technik von technisch produzierter Energie kommt man nicht herum. Die Technik wird in einer fatalen Schleife auf sich selbst zurückverwiesen.“

Technik, schreibt Luhmann, funktioniere gleichsam außerhalb des Sozialvertrags. Wer ein Auto benutzen wolle, müsse sich vielleicht mit den Mitfahrern über das Fahrziel, nicht aber darüber verständigen, wie das Auto funktioniert. Aber gerade indem Technik funktioniert, werfe sie Probleme auf, die sie zum Thema des Sozialvertrags machten. Das „führt zwangsläufig vor die Frage, ob man Technik weiterhin als konsensfreie Enklave behandeln kann oder ob wir genau deshalb Konsens über operative Details technischer Vollzüge brauchen, weil wir die Zukunft der Natur nicht kennen können“.

Solche weitgehenden Überlegungen sucht man bei Habermas vergeblich. Von der sozialen Marginalisierung, die ja nicht nur in Form der Favelas, sondern auch als Dauerarbeitslosigkeit hierzulande auftritt, kann man das immerhin nicht behaupten; sie taucht hier und da auf. Aber wenn man von Luhmanns Studien zu Habermas Streitschriften wechselt, ist man doch herb enttäuscht: Globale Probleme solchen Formats werden hier zwar ins Spiel gebracht, um die begrenzte Problemlösungskompetenz des Nationalstaats deutlich zu machen. Aber sie werden gewissermaßen bloß zitiert, sie werden nicht als Herausforderung für die Gesellschaftstheorie behandelt.

Am Ende soll nach Habermas dann etwa die Europäische Union richten, was im nationalstaatlichen Rahmen nicht mehr regelbar scheint. „Sie [die „Berliner Republik“; d. Red.] würde sich nicht, mit dem Blick nach Osten, als souveräne Vormacht gerieren, sondern konzertiert handeln. Sie würde ihren Einfluß innerhalb des institutionellen Rahmens einer demokratisch ausgebauten Europäischen Union geltend machen und darauf einwirken, daß die Europäer gemeinsam, nach außen wie nach innen, ihrer Verantwortung gerecht werden.“

Es kommen härtere Tage. In dieser Diagnose sind sich Habermas und Luhmann einig. Aber die Systemtheorie mit ihrer ernüchternden Lehre bereitet besser darauf vor als eine Kritische Theorie, deren Ton sich am Ende verdächtig der politischen Sonntagsrede annähert.

Niklas Luhmann: „Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie. Band 4“. Suhrkamp, Frankfurt 1995, 186 S., geb., 38 DM

Jürgen Habermas: „Die Normalität einer Berliner Republik. Kleine Politische Schriften VIII“. edition suhrkamp, Frankfurt 1995, 189 S., 16,80 DM