"Blavatzkys Kinder" - Teil 4 (Krimi)

Teil 4

Mit letzter Kraft zerrte Robert die Wäsche vom Bett, warf sie in die Ecke, rollte seinen Schlafsack auf dem Bett aus und kroch hinein.

Am Morgen packte Robert den Schlafsack zusammen, schnürte seine Schuhe, schloß sein Gepäck ins Auto und sah sich um. Links und rechts leere Felder und nasse braune Wiesen. Am Horizont konnte man die Dächer eines Dorfes sehen. Die Straße zog schnurgerade nach Süden. Immerhin, das Wetter war gut. Er ging zur Rezeption, um zu zahlen. Er suchte auf seiner Autokarte eine landschaftlich schöne Nebenstrecke nach Budapest.

* * *

Solizas Leute waren sich nicht einig, wohin sie gehen sollten. Von der Regierung erwarteten sie keine Hilfe. Aber vielleicht gab es einen Ort, in dem sie willkommen waren. Wer so dachte, wurde von den anderen ausgelacht.

„Ihr seid dumm. Alle sagen immer: ,Ein Zigeuner bleibt ein Zigeuner.‘“

„Wir sind nirgends willkommen“, bestätigte eine alte Frau, die schon einmal vertrieben worden war.

„In Bukarest, in der großen Stadt, da sind die Leute anders. Ganz sicher“, behauptet Soliza. „Dort finden wir Arbeit.“ Solizas Mutter stimmte zu.

Von Tirgu Mureș nach Bukarest war es weit. Sie mußten betteln, und manchmal bekamen sie ein paar Bissen zu essen, aber nirgendwo durften sie bleiben. Schließlich hatten sie kein Geld und nichts mehr, was sie verkaufen konnten, außer ihren Kleidern. Sie stahlen. Manchmal Hühner, manchmal Milch von einer Kuh aus einem Stall, einen Sack Kartoffeln oder Äpfel aus einem Schuppen. Der Winter brach über sie herein, und zwei von den alten Leuten starben auf dem Weg durch die transsilvanischen Alpen. Eine war Solizas Mutter. Sie mußten die Toten auf einem hartgefrorenen Feld liegen lassen.

Nach vielen mühsamen Wochen kamen sie in Bukarest an. Soliza hatte noch nie eine so große und so laute Stadt gesehen. Sie fanden andere Roma, die ihnen halfen. Soliza lebte nun mit ihrem Kind bei Ana, einer entfernten Verwandten, ihrem arbeitslosen Mann und ihren vier Kindern. Sie teilten sich am Rand der Stadt eine Hütte. Der kleine Rjako war jetzt fünf Monate alt und hatte sich auf der Wanderschaft erkältet. Er hustete in den meisten Nächten.

Soliza verkaufte tagsüber mit Ana auf dem Rahova Platz Zucker, den Ana von arabischen Händlern in Constanta erstanden hatte. Beide versuchten, die Schmähungen der Leute zu überhören, die man ihnen häufig zurief. Die Leute waren neidisch, denn Zucker war rationiert, und an manchen Tagen verdienten die beiden Frauen mehr als ein Facharbeiter.

Es war noch Winter, Schnee lag auf dem Platz, und es war bitterkalt. Soliza zündete ein Feuer in einem Blecheimer an und wärmte ihre Hände. Die kleine, etwas rundliche Frau trat von einem Fuß auf den anderen, um die Kälte aus ihren Knochen zu vertreiben. Ja, dachte sie, hier kann ich leben. Da hörte sie ein Stampfen. Hufe. Das alte Ehepaar vom benachbarten Stand rannte weg und schrie unverständliche Warnungen in ihre Richtung. Zu spät.

Etwa fünfzig maskierte Männer mit Holzstöcken und Gummiknüppeln ritten auf den Platz. Die maskierten Schläger verwüsteten alle Stände, an denen Roma Zucker, Blumen oder Zigaretten verkauften. Sie schlugen Männer, Frauen und Kinder nieder und stahlen Waren und Geld.

Um den Platz herum standen Menschen. Einige klatschten Beifall und feuerten die Maskierten an. Die Zuckersäcke waren für Ana und Soliza zu schwer. Sie konnten nur das Geld in ihrer Rocktasche retten. Beide Frauen schleppten sich verletzt nach Hause. Nur ein Sack Zucker war Ana noch geblieben.

„Das reicht nicht bis zum Sommer“, weinte Ana. Sie verpackten den Zucker in kleinere Tüten. Sie besaßen nun keinen festen Stand mehr. Sie zogen durch die Stadt, immer begleitet von der Angst vor neuen Überfällen. Das Geld, das sie für den letzten Zucker einnahmen, deckte die Kosten der Nahrungsmittel für wenige Wochen. Und dann?

* * *

Miriam Kern entdeckte das Kaffeehaus Lukács in der Andrássy Ut zufällig. Sie machte Urlaub in Ungarn und war durch die Straßen Budapests gelaufen, bis ihre Füße brannten. Die Schwitzflecken auf ihrem schwarzen T-Shirt unter ihren Armen reichten fast bis zum Ellenbogen. Ihre Füße steckten in blauen Socken und schwarzen Halbschuhen. Sie glühten. Wahrscheinlich warf ihre Haut schon Blasen. Sie hielt die Lederjacke am Mittelfinger über der Schulter, als sie das Café betrat.

Fortsetzung folgt