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Guru vom Fischmarkt

„Alle Größen decken sich zu“: Wim Vandekeybus' Ballett-Portrait des Hamburger Nichttänzers Carlo Verano

Alte Menschen faszinieren wie Kinder, die nur durch ihr Schreien und Lächeln das für sie lebensnotwendige Mitleid erwecken können. Alte Menschen müssen faszinieren, um gepflegt oder angenommen oder wenigstens gemocht zu werden. Alte Menschen ohne Angehörige landen in der Verwahrung wie kleine Kinder im Waisenhaus. Manchmal aber finden sie und ihre Geschichten auch den Anschluß an die Generation der Enkel.

In Flandern hat es schon öfter Fälle dieser wunderbaren Freundschaften unter Künstlern der Enkel- und Großelterngeneration gegeben. Die Vorreiterin der belgischen Tanzavantgarde, Marguerite Acarin „Akarova“, etwa hatte ihr biblisches Alter längst erreicht, als eine der jüngsten Choreographinnen des Landes, Michèle Anne de Mey, ihren Augen kaum traute, während sie die ehrwürdige Greisin mit der Videokamera filmte. Die fast Neunzigjährige pries für den Tanz die Vorzüge der allerneuesten elektronischen Medien. Auch der flämische Choreograph Wim Vandekeybus hatte das Glück einer solchen Freundschaft: mit Carlo Verano alias Carlo Wegener, Jahrgang 1903, den er 1989 auf dem Hamburger Fischmarkt kennengelernt hatte.

Eine Gegend, die für ihre Originale bekannt ist. Carlo Verano soll auf einem Floß gestanden haben, als ihn die Amateurkamera des belgischen Gastes erfaßte. Verano sah die Kamera, kam und tanzte auf dem Fischmarkt, tanzte mit einer erstaunlichen Leichtigkeit, ohne sich Mühe zu geben, „wie ein Jüngerer“ zu wirken. Er tanzte mit jener wiedergewonnenen Einfalt, die die menschliche Biologie erfunden hat, damit die Alten nicht an Einsamkeit zugrunde gehen.

Es war Liebe auf den ersten Blick. Vandekeybus besuchte den Alten regelmäßig, reiste immer wieder nach Hamburg und erfuhr die Lebensgeschichte des dreimal nur für wenige Tage verheiratet gewesenen Mannes, der im Alter von 25 Jahren „zu spät“ das Tanzen begann. 1935 heuerte er auf einem Schiff an und fuhr nach Afrika, kam zurück, wurde in die Armee einberufen, marschierte bis Minsk und Smolensk. Unter seinem Künstlernamen Carlo Verano wurde er 1944 am Stadttheater von Karlsbad als Chorherr engagiert. 1945 kam er zum Hamburger Varieté-Theater „Allotria“, spielte im „Alkazar“ das Varieté-Stück „Melodie der Frauen“, dann in Karl Schönherrs Schauspiel „Der Weibsteufel“. Im Theater „Die Auslese“ nahm Carlo Verano 1948 als Chorherr an der Produktion „Liliom“ teil, mit Hans Albers als Hauptdarsteller. Wie seine künstlerische Karriere weiterging, darüber schwieg er oder hatte es dank seines Alters ganz einfach vergessen.

Erlebt habe ich Carlo Verano nur auf Videos von Wim Vandekeybus, in „La Mentira“ – zu deutsch: Die Lüge –, einer Kompilation choreographischer Details aus Vandekeybus' Choreographie „Immer das Selbe gelogen“ von 1992. Der Titel stammt von Verano selbst, der in seiner knappen Art aussprach, was er über den Hamburger Senat dachte: Immer dasselbe und das noch gelogen. Ein alter Mann mit Hakennase, spitzem Kinn und gutartigem Halsgeschwulst, Hamburger Akzent, tänzelnd und dabei unermüdlich sprechend, nein: dramatisierend. Selbst das Kochen eines Eis wurde zu einer Inszenierung, steigerte sich zu einem temperamentvollen Abwägen von Möglichkeiten, endete in einem Akt der Entschlossenheit. Verano kochte Eier, wie manche Regisseure Theater inszenieren. Mit der gleichen Leidenschaft, Umsicht und unnachgiebigen Genauigkeit.

Am 3. April 1992 kochte Vandekeybus' Tanzcompagnie „Ultima Vez“ dann selbst unermüdlich Eier auf der Bühne, und Verano saß als Ehrengast im Publikum. Nach diesem Gastspiel in Hamburg zog der Alte zu Wim Vandekeybus nach Brüssel. Die Wohnung im Kiez war baufällig geworden, ein Zimmer hatte das Bauamt schon im Jahr zuvor wegen Einsturzgefahr versiegeln lassen.

Einen alten Baum verpflanzt man nicht. Verano starb am 12. September 1992 in Brüssel, während Vandekeybus sich auf einer Tokio-Tournee befand. Veranos Asche wurde am 26. Oktober in die Nordsee gestreut.

Zu Lebzeiten war Verano nicht nur ein unersetzlicher Freund, er war eine Erscheinung, die wie ein Guru auf Tonbändern und Videofilmen festgehalten wurde. 160 Stunden Material unermüdlichen Redeflusses sind sein Vermächtnis. Trotz der Fülle an Erinnerungen aber ist Wim Vandekeybus mit seinem jüngsten Stück „Alle Größen decken sich zu“ die Hommage an seinen Freund Carlo Verano nicht gelungen.

Er hat gleich zwei Schauspieler gebraucht, um den wilden alten Mann auf der Bühne darzustellen: Videomonitore auf der Bühne, links ein alter Herd, rechts ein turmhohes Gerüst, in dessen Streben ein Zimmer in Veranos Wohnung wahrscheinlich sogar originalgetreu nachgebaut ist. Zwei mehr oder weniger stumme Rollen voll naiver Animalität lenken den Blick ab von zwei Schauspielern, die eindreiviertel Stunden lang Texte des alten Mannes aufsagen – ohne dessen Tonfall zu treffen und ohne den Impetus der Originalität zu besitzen, der sich aufdrängt, wenn Wim Vandekeybus eben nicht nur eine Hommage beabsichtigt, sondern regelrechtes Dokumentartheater. Aber die Wiedererweckung eines Mannes, von dem eine lange Plastilinnase beim einen, ein gutartiges Halsgeschwulst aus Plastilin beim anderen übrigbleibt, kann kaum gutgehen.

Vandekeybus ist kein Schauspielregisseur, der die Textflut mit einem doppelten Boden hätte beschweren können; er ist ein Choreograph, der das reale Abbild auf die Bühne zwingt, das Akrobatische als den Einsatz des echten Körpers versteht, der in „Her Body Doesn't Fit Her Soul“ 1993 den blinden Said Gharbi zu waghalsigen und gefährlichen Sprüngen am Rand des Orchestergrabens bewegen konnte, daß einem fast das Herz stehenblieb. Hier aber wird das Echte mit Realismus verwechselt, das Authentische mit dem Dokumentarischen. Dieses „Wir tun so, als ob es Verano noch gäbe“ schmilzt zusammen zu einer melodramatischen Textsammlung eines Mannes, der nie zwei andere Worte als die seiner Unterschrift aufgeschrieben hat. Arnd Wesemann

Wim Vandekeybus' „Alle Größen decken sich zu“ auf Tournee: 19. und 20. Juli in der Szene Salzburg, 30. und 31. Juli bei den Tanzwochen Wien im Messepalast, 15. und 16. August beim Internationalen Sommertheaterfestival auf Kampnagel in Hamburg.

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