Deutschland kaputt

■ Die Stadt Stuttgart hat die Opfer und ihre Angehörigen nach dem Brand alleingelassen. Nur ein Pfarrer engagierte sich.

Harun Say kam am frühen Morgen des 16. März von der Arbeit nach Hause. Das Haus in der Geißstraße, wo er im vierten Stock mit seiner Frau Nebahat und der vierjährigen Tochter Gül lebte, stand in Flammen. „Man hat mich nicht mehr hineingelassen“, sagt er, „ich konnte nur noch zusehen.“ Seine Frau, im neunten Monat schwanger, und seine Tochter starben. Say war zwei Jahre zuvor in die Stuttgarter Altstadt gezogen, nachdem seine Frau aus der Türkei ihm nachgereist war.

Nicht weit von der Wohnung entfernt hatte er eine Gaststätte eröffnet, „Gül Taverne“, benannt nach seiner Tochter.

Nach dem Tod seiner Familie kam Say nicht mehr auf die Beine. Seine Gaststätte mußte er wegen Schulden schließen, eine neue Wohnung fand er nicht mehr. Jetzt schläft er auf der Couch im Wohnzimmer seines Vaters, einen Arbeitsplatz hat er nicht mehr gefunden.

„Ich werde ihn umbringen“, sagt Harun Say über den Brandstifter. Als er gestern erfuhr, daß man einen Verdächtigen festgenommen hat, nickte er nur mit dem Kopf. Say glaubte immer, daß der Anschlag auf die Geißstraße gezielt war. Er hat es immer so erzählt, auch wenn die Ermittler unter Drogensüchtigen nach dem Täter suchten oder, wie ganz am Anfang, einen technischen Defekt nicht ausschlossen. Hinweise auf Benzin oder sonstige Brandbeschleuniger hatte die Polizei nie gefunden. Doch in dem stets offenen Hausflur lagerten Mengen von Kartons – es war ein leichtes, damit das Treppenhaus in Brand zu setzen.

Nach der Beerdigung von Frau und Kind in der Türkei war Harun Say nach Stuttgart zurückgekehrt und hatte die Kneipen der Altstadt nach dem Täter abgesucht. Er wollte ihn finden, irgendwie, „und dann fertigmachen“. Doch ohne sein Gesicht zu kennen und ohne sonstige Hinweise zu haben, machte er vergeblich die Runde. Mit seinem Schmerz blieb er allein.

Das ist der Grund, warum der evangelische Pfarrer und Vorsitzende des Arbeitskreises Asyl in Baden-Württemberg, Werner Baumgarten, so wütend auf die Stadt Stuttgart ist. Das Haus in der Geißstraße werde nun wieder schön hergerichtet, „um die Opfer von damals aber kümmert sich niemand“. Vor knapp drei Wochen, am 2. Juli, hielt Baumgarten vor dem Haus einen Gedenkgottesdienst. Es kamen gerade 50 Menschen – fast alle waren Opfer oder Angehörige der Opfer vom 16. März.

In seiner Predigt kritisierte Baumgarten, man habe die Opfer von damals „allein gelassen und zurückgestoßen“. Bis auf eine Ausnahme habe die Stadt den so schwer Getroffenen kein offizielles Kondolenzschreiben geschickt oder sie psychologisch betreut. Statt dessen habe man die Betroffenen „mehr oder minder ihrem bitteren Schicksal überlassen“.

Der 30 Jahre alte Harun Say will in Deutschland bleiben. Er will seine Bettdecke nehmen „und mich vor das Sozialamt legen“. Seit dem Brandanschlag wartet er auf Hilfe, „statt dessen hat die Stadt die Miete meines Vaters erhöht, nur weil ich hier eingezogen bin“. Vater Osman spricht nicht gut Deutsch, obwohl er seit 31 Jahren hier lebt. Aber das kann er sagen: „Deutschland kaputt“, und dann fragt er seinen Sohn: „Diesen jungen Deutschen, kann man den einmal sehen?“