Tausend Takas für Hühner und einen Käfig

■ Die Grameen Bank arbeitet an der Basis. Die Kosten für die Kleinstkredite senkt sie, indem sie den Nachweis der Zahlungsfähigkeit den KundInnen selbst überläßt.

Wie kann eine Bank gewinnbringend Geld an Leute ausleihen, die absolut arm sind – ohne regelmäßiges Einkommen, meist ohne Schulbildung, Menschen ohne einen Flecken Land und mit armseligen Heimstätten, die regelmäßig Zyklonen und Überschwemmungen zum Opfer fallen?

Ist es möglich, als Bank zu operieren, wenn die Kunden keinerlei Sicherheiten bieten und der Aufwand im Vergleich zum individuellen Kreditbedarf den Zinssatz in unerreichbare Höhen treibt? Das Dilemma wurde meist so gelöst, daß Entwicklungsbanken den Staat zur Kasse baten. Das Resultat war vorauszusehen: Die Banken waren bald hoch verschuldet, und die Mehrheit der Kreditnehmer war notleidend.

Bangladesch ist eines der ärmsten Länder der Welt – und in den Finanzen der ländlichen Entwicklungsbanken spiegeln sich genau die beschriebenen Verhältnisse wider: Die Rückzahlungsquote für alle ihre Darlehen lag 1993 bei 19 Prozent, für Kredite an Kooperativen gar nur bei 2,7 Prozent. Dies bewirkte eine rasche Abnahme ausgeliehener Gelder, die Kreditinstitute konnten ihren Zweck nicht erfüllen.

1992 lag die Gesamtsumme aller ländlichen Bankdarlehen um 15 Prozent unter jener von vor zehn Jahren, obwohl sich das Sozialprodukt inzwischen verdoppelt hatte. Das Resultat: Bereits 1987 wurde in einer Studie „ein spektakuläres Comeback der Geldausleiher“ festgestellt, mit Wucherzinsen von 150 Prozent im Jahr. Der Verwendungszweck dieser Kredite zeigt, daß sie fürs schiere Überleben aufgenommen wurden: Zwei Drittel dienten dem Konsum, meist von Lebensmitteln.

Und dann kam eine Bank, die alle diese Trends auf den Kopf stellte. Die „Grameen Bank“, 1983 aus einem Pilotprojekt hervorgegangen, lieh im letzten Jahr 30 Prozent mehr Geld aus als alle ländlichen Banken zusammen, insgesamt 12,4 Milliarden Takas (421 Millionen Mark), und konnte dabei noch einen bescheidenen Gewinn von knapp 10 Millionen Takas ausweisen. Die Kunden, fast alle in ländlichen Regionen, waren ausschließlich Landlose, also die Ärmsten der Armen.

Und es waren zu 92 Prozent Frauen, die in der muslimischen Gesellschaft Bangladeschs kaum ökonomische Rechte genießen. Die Rückzahlungsrate zeigt den Erfolg des Projekts: sie lag 1994 bei 98,26 Prozent.

Die „Dorf-Bank“ scheint damit ein Problem gelöst zu haben, das wie die Quadratur des Kreises erschien. Der Ausweg, den der Gründer der Grameen Bank, der Ökonomieprofessor Mohammed Yunus, fand, war bestechend einfach: Die hohen Kosten für die Kleinkredite werden „externalisiert“. Kundenauswahl und -überprüfung, Begleitung und Durchsetzung der Rückzahlung werden anderen aufgebürdet – den Kunden selbst.

Dies konnte allerdings nur funktionieren, wenn die Bank über einen Mechanismus verfügte, der die Rückzahlungsdisziplin sicherstellte. Yunus schuf ihn mit der Gründung von „Gruppen“ und „Zentren“. Fünf Frauen aus der Nachbarschaft tun sich zusammen und bilden, nach einem gründlichen Einführungskurs in Philosophie und Funktion der Bank, zusammen eine Kredit-Gruppe. Sie wählen eine Vorsitzende – ein Posten, der jedes Jahr rotiert. Gibt es in einem Dorf einmal acht Gruppen, kommt es zur Gründung eines „Zentrums“. Alle Gruppen eines Zentrums treffen sich einmal wöchentlich, wobei die Präsenz für jedes Mitglied Pflicht ist. 1994 gab es in 35.000 Dörfern Bangladeschs 59.634 Zentren mit insgesamt über 2 Millionen Mitgliedern.

Will ein Gruppenmitglied einen Kredit von 1.000 Takas (34 Mark) beantragen, um zum Beispiel Hühner und Material für einen Hühnerstall zu kaufen, wird das Begehren zuerst in der Gruppe diskutiert. Die Vorsitzende legt den Antrag darauf in der wöchentlichen „Centre“-Versammlung vor. Ein Vertreter der nächsten Grameen- Filiale (insgesamt gibt es 1.100) nimmt ihn entgegen und leitet ihn dem Bezirksmanager der Bank zu. Zwei Wochen später kann die Frau zusammen mit der Gruppen- und der Centre-Vorsitzenden das Geld auf der Filiale abholen – ihre drei Unterschriften sind die einzigen Sicherheiten.

Alle Transaktionen laufen damit unter den Augen von Gruppenvertretern ab. Diese Transparenz und die Postenrotation sorgen dafür, daß Machtmißbrauch praktisch ausgeschaltet ist.

Aber es ist nicht nur sozialer Druck, der den Erfolg des Grameen-Konzepts garantiert. Eine Gruppenangehörige ist mehr als Kreditnehmerin: Sie ist Mitglied der Bank und zudem Kundin, nicht Hilfsempfängerin. Die Grameen- Bank gehört heute zu 92 Prozent den armen landlosen Frauen des Landes. Und als Klientinnen sind diese offensichtlich auch bereit, für die Dienstleistungen zu zahlen. Ein Kredit, der in der Regel in 52 wöchentlichen Raten über ein Jahr zurückbezahlt wird, liegt mit einem Zins von 20 Prozent über dem Preis staatlicher Kredite.

Dieser Satz wird durch zusätzliche Verpflichtungen noch erhöht: Ein Mitglied muß jede Woche 1 Taka in einen Gruppenfonds einzahlen; 5 Prozent jedes Kredits werden bei der Ausschüttung abgezogen und ebenfalls in den Gruppenfonds gegeben. Diese Steuer wird „Mustichaal“ genannt, in Anspielung auf die Handvoll Reis, die die bengalische Hausfrau beim Kochen jeweils als Sparration auf die Seite legt. Jede Gruppe hat für ihren Fonds ein separates Konto, das mit 8,5 Prozent verzinst wird. Es ist eine Geldquelle, über die die Gruppe exklusiv verfügt. 1993 betrug die Gesamtsumme aller Gruppenfonds 1,2 Milliarden Takas. Die Fonds sind, in einem Land, in dem die meisten Menschen nur an ihr Überleben denken, der erste Schritt zum Sparen.

Die praktisch 100prozentige Rückzahlungsquote könnte den Verdacht wecken, daß dies nur durch starken Gruppendruck zustande kommt. Verschiedene Studien haben aber gezeigt, daß sich die 454 verschiedenen Kreditzwecke – von Hühnern über Kartoffelsetzlinge und Medikamente bis zu Pumpen und Hausbau – auch auf die wirtschaftliche Substanz ausgewirkt haben. So hat sich etwa das Einkommen von Mitgliedern um 43 Prozent stärker vermehrt als jenes von Nichtmitgliedern, und die Gesundheitsausgaben liegen um 74 Prozent höher.

Untersuchungen haben auch gezeigt, daß die Frau im Haushalt an Status gewonnen hat und daß sie gegenüber Ehemann und Dorf- Mullah bedeutend selbständiger in der Wahl von Mitteln zur Empfängnisverhütung geworden ist.

Trotzdem gibt es auch Kritik an der Grameen Bank, nicht zuletzt von feministischer Seite. Sie lautet, daß die Machtbeziehungen der Geschlechter nicht grundlegend verändert wurden. Im Gegenteil, sagt R. Sen Gupta von der Universität Sussex, die Frau als Bankkundin stelle dem Mann damit nicht nur ihre Arbeitskraft zur Verfügung, sondern diene ihm auch noch als Kapitalressource.

Kritik kommt auch von seiten von Selbsthilfe-Organisationen. Sie werfen der Bank vor, zu stark von Zuschüssen abhängig zu sein. Tatsächlich kam der letztjährige Gewinn nur zustande, weil einige Tätigkeiten wie Forschung, Entwicklung und Ausbildung ausgeklammert wurden (auch sie werden durch westliche Spendengelder finanziert). Gemäß Weltbank liegt der „Subventionsabhängigkeitsindex“ der Grameen Bank immer noch bei 180 Prozent, was heißt, daß die Zinsrate mit dem Faktor 2,8 multipliziert werden müßte, wenn die Bank alle Kosten selbst tragen würde.

Yunus gibt im Gespräch zu, daß die Bank noch nicht selbsttragend ist. Aber wer die Entwicklung seit 1983 betrachte, als sie noch vollständig fremdfinanziert war, könne erkennen, daß die Bank noch vor dem Jahr 2000 ihren gesamten Kapitalbedarf durch neue Anleihen und interne Ersparnisse decken werde. Schließlich sei die Sparfähigkeit der Armen durch die Kredittätigkeit erst geschaffen worden, und das brauche Zeit. Bereits heute aber habe die Grameen Bank keine Mühe, auf dem Kapitalmarkt Anleihen aufzunehmen. Das Haus gilt also als „sichere Bank“.

Auch die Kritik von feministischer Seite weist Yunus zurück. Die Zunahme von Ersparnissen und Einkommen beweise, daß die Kredite zielgerecht eingesetzt wurden. Die Bank gehöre den Frauen von Bangladesch, neun ihrer dreizehn Direktoren sind Frauen, der Frau werde im Entwicklungsprozeß von Bangladesch die zentrale Rolle eingeräumt. Bernard Imhasly, Delhi