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Alltag im Ghetto

■ "Aufbruch", 5teilige Dokumentation, sonntags, 17 Uhr, 3sat

Es ist mal wieder wie immer: Da macht sich einer die Mühe und schaut sich ein Jahr lang mit Kamera und Mikro und viel Geduld dort um, wo das Fernsehen ansonsten nur hinguckt, wenn's im wahrsten Sinne des Wortes brennt. Der Mann liefert zweieinhalb sorgfältig gearbeitete Programmstunden über den Alltag von Migrantenkindern in Berlin, Paris und London ab, und es ist kein Betroffenheits- Latein und auch nicht nur die Geschichte vom hart arbeitenden, steuerzahlenden türkischen Gemüsemann an der Ecke, sondern das Porträt einer „kreativen Generation poetischer Pragmatiker“, durch die sich besonders in den Metropolen bislang unentdeckte, gleichwohl zukunftsweisende gesellschaftliche Perspektiven auftun.

Und was passiert? Ab ins Ghetto – ganz wie im richtigen Leben. Nur 3sat macht Geld dafür locker, selbst dort stehen nur am Sonntagnachmittag Sendetermine zur Verfügung, und das ist sogar noch ein Glücksfall, wenn man 3sat-Redakteurin Ulrike Franz hört: Nach dem 1. September gebe es nicht mal mehr den. Dann müssen, so will es das neue Sendeschema, Dokumentarstücke wie diese am frühen Nachmittag unter der Woche versteckt werden.

So spricht einiges dafür, diesmal am Sonntag nachmittag Fernsehen sonstigen Wochenendvergnügungen vorzuziehen, um mit einigen Barbaren Bekanntschaft zu machen. „Barbaren“ (griech.: Fremde) sind in unserem Sprachgebrauch laut Duden „rohe, ungesittete und ungebildete Menschen“. Trotzig nannten sich viele Jugendliche in Berlin selber „Barbaren“ und führten sich auch so auf. Zu Spitzenzeiten ein paar hundert Mann stark und die härteste Jugend-Gang der Stadt, gingen sie regelmäßig mit Gaspistolen, Messern, Baseballschlägern auf „die anderen“ los, Barbaren wie sie. „Das war ein Riesending, das hat seinen Reiz gehabt“, sagt Mustafa, geboren in der Türkei, aufgewachsen im höhnisch „Sozialpalast“ getauften Wohnkomplex an der Potsdamer Straße und einst „Barbaren“-Chef.

Aber auf Dauer konnte es das ja nicht gewesen sein. Irgendwann begannen sie, sich selbst zu zähmen, einer der „Barbaren“ schiebt einen Kinderwagen durchs Bild, ein anderer klimpert Beethovens „Für Elise“ auf dem Klavier: Man hat sich aus eigener Kraft ein Jugendzentrum aufgebaut, den „Treff 62“, um sich selber Heimat zu sein und Neues auszuprobieren.

Ein Beispiel von kreativem Schub aus dem Aufstand gegen die Hoffnungslosigkeit, wie er sich in der britischen Hauptstadt dank konsequenter „life politics“ schon seit langem Bahn bricht. Die Berliner Ex-„Barbaren“ lassen sich bei einem Besuch in den Londoner Stadtteilen Brixton und Notting Hill, wo aus früheren Straßenschlachten karibischer Einwanderer mit den Bobbys das gigantische Spektakel „Notting Hill Carnival“ hervorging, davon antörnen. Und vielleicht ist der Tag nicht fern, da es im Berliner Neukölln einen „New Cölln Carnival“ gibt.

Im Quartier Barbès der französischen Hauptstadt sind bei einem afrikanischen Fest Sprechgesänge zu hören, die zwar auf der Tradition der Barden, singender Nachrichtenüberbringer, aus Gambia fußen, aber dem „Freestyle“-Rap in Berliner U-Bahnen oder auf den Frequenzen von Radio KISS FM keineswegs unähnlich sind. An der Spree kommt diese Jugendmusik aus Kehle, Kopf und Herz von ausgeschlafenen 16jährigen: Vambo Lee (der das Licht der Welt in Thailand erblickte), im Nebenjob KISS-Moderator, und seine Freunde unterschiedlichster Herkunft liefern sich auf Schritt und Tritt wahre „Freestyle“-Sessions. [Wenn unsere Autorin den Inhalt richtig rüberbringt, scheint für Reinhard Kahl mal wieder nur der männliche Teil der MigrantInnen(kinder) zu existieren. Dafür würde ich meinen Sonntag nachmittag keinesfalls opfern! d.sin] Ulla Küspert

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