Tierversuche – Teil 1 Von Manfred Riepe

Mein Freund Paul setzt immer alles auf Rot. Entweder er streicht darauf eine erheblich Summe ein. Oder er verläßt sogleich das Etablissement. Aber das ist nicht der Punkt. Mein Freund Paul spielt nämlich nach dem einzig möglichen System, das es gibt: kein System. Das heißt, er verdoppelt nach jedem verlorenen Spiel den Einsatz. Hat er seinen Verlust ausgeglichen, so beginnt er mit kleinen Summen von vorne.

Aber das ist immer noch nicht der Punkt. Denn selbst dieses Nichtsystem scheiterte einmal, und Paul gewann sozusagen „rein zufällig“ eine Summe Geld. Das erschütterte ihn so sehr, daß er die ganze Heimfahrt über schwieg. „Weißt du, es ist nicht das Geld“, sagte er nach einer Weile. Dann versank er wieder in eine tiefe innere Ruhe, die ich so an ihm noch nicht erlebt hatte.

„Ich war Tierpfleger“, begann er nach einer Dreiviertelstunde, als wir längst bei ihm zu Hause waren, „bei den Farbwerken Hoechst.“ Er ging ans Bücherregal und überreichte mir ein medizinisches Fachbuch. „Von einem Tierpfleger- Kollegen“, sagte er und entnahm dem Buch eine beigefügte Schallplatte – eine Geräuschaufnahme. Der Verfasser, ein Hals-Nasen- Ohren-Arzt, hatte mit einem Stetoskop Atemgeräusche aufgezeichnet, die sich bei verschiedenen Erkrankungen der Atemwege jeweils unterschiedlich anhörten. Je nach Krankheit erinnerte das Atemgeräusch an das Husten von Krokodilen, an Würfel, die in einem Lederbecher geschüttelt werden, an eine nicht entkalkte Kaffeemaschine oder an eine Leiche, die man eine Dachstiege hinunterwirft. „Am liebsten mochte ich die Affen“, sagte Paul. „Ich habe mich ziemlich schnell an sie gewöhnt. Aber ich wechselte wöchentlich die Abteilung. Ich kam dann zu den Ratten und am Ende zu den Mäusen.“

Nach einer Weile fügte er hinzu: „Ich erinnere mich noch genau, daß wir – ein Kollege und ich – eines Tages eine ganze Testreihe annihilieren mußten.“ – „Was bedeutet denn ,annihilieren‘?“ fragte Tina. – „Man kann“, sagte Paul, Tina mit einem Seitenblick streifend, „nicht zweimal in denselben Fluß steigen, und man kann eine Maus nicht zweimal für einen Versuch verwenden. Verstehst du, was ich meine?“

Ich nickte möglichst beiläufig, denn ich wußte, daß Paul manchmal seltsam werden konnte. „Wir haben“, fuhr Paul fort, „die Mäuse anfangs in kleinen Gruppen in eine Klarsichtbox gesperrt und mit einem Gas betäubt. Ganz friedlich. Sie sind nicht mehr aufgewacht. Aber bald merkten wir, daß es zu viele waren. Es war unmöglich, alle Mäuse nach diesem Verfahren umzubringen.“ Tina war entsetzt: „Was habt ihr gemacht?“

Paul antwortete: „Wir haben die Mäuse in große blaue Plastiksäcke geworfen, Äther hineingegeben, oben zugehalten und eine Minute gewartet, bis sie zu zappeln aufhörten und in Todesschlaf versanken. Dann kam die nächste Schicht: Das haben wir acht Stunden lang ohne Unterbrechung gemacht. Meine Hand tötete mehr Mäuse als das Hochwasser 1994, das die Maininsel gegenüber dem Sachsenhäuser Ufer überschwemmte.“ Paul übergoß seinen Handrücken mit Feuerzeugbenzin, um die Klebereste eines Heftpflasters zu entfernen, und sagte: „Ich habe damals sehr deutlich gespürt, daß der Mensch sterblich ist.“