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Wir lassen lesenWo ist Wembley?

■ 60 Jahre deutscher Fußball-Pokal

Im „Londoner Wembleystadion“ findet seit 1923 das Finale um den Pokal der F.A. statt, des englischen Fußballverbandes. Generationen von Berichterstattern haben uns das eingeredet; spätestens die erste eigene Reise an die Themse brachte die Wahrheit zutage: Wembley gehört zu einer Grafschaft namens Middlesex.

Noch ärger mißachtet als das eingemeindete Wembley wird der korrespondierende deutsche Endspielort, denn wer spricht schon vom „Berliner Charlottenburgstadion“? Es ist halt nicht einfach mit derlei Analogien, obwohl Wembley und Charlottenburg Olympische Spiele erlebt haben. Wahr ist, daß seit 1985 auch der Deutsche Fußball-Bund seine Cup- Finals immer am selben Ort, nordwestlich vom Ku'damm, zur Durchführung bringt.

Aber warum nicht den Versuch machen, den lange Zeit über die Schulter angesehenen DFB-Pokal durch kleine Kunstgriffe nachträglich aufzuwerten? Ralf Grengel, Herausgeber des gewagt betitelten, opulent bebilderten Rückblicks „Das deutsche Wembley – 60 Jahre Vereinspokal“, und sein Verlags- und Sponsorenkollektiv haben die Lücke in der Markt- Mauer erspäht und ihr 288-Seiten-Werk mit viel Effekt hindurchplaziert.

Das betrifft weniger die großangekündigte Statistik, die wenig Neues bringt; schon origineller, aus alten Reportagen und neuen O-Tönen montiert, sind die Texte („Ich finde, wir sehen aus wie Preßwürste, spricht Egon Köhnen und verlängert seinen Schlitz an der Hosenseite mit einer Schere um gut fünf Zentimeter, ehe er den Rasen des Gelsenkirchener Parkstadions betritt“).

Doch vor allem die, grob geschätzt, 700 Action- und Teamfotos von 51 Endspielen fordern jedem Connoisseur mindestens eine durchblätterte Nacht ab. Auf Schnee oder sattem Grün, kreiselnd, grätschend und faustend, teils tiefenscharf, teils verwischt kämpfen die Kick- Heroen der 30er bis 90er Jahre voller Leidenschaft ums Leder: Der Mucki und der Bimbo, der Schorsch und der Radi, uns' Uwe und Ottos Olli. Grau in Grau oder grellgemustert, ordentlich aufgereiht oder als wilder Haufen, lorbeerumrahmt oder sektverspritzend präsentieren sich die 51 Siegerteams.

Wobei diese Mannschaftsfotos noch eine kulturgeschichtliche Tour de force besonderer Art darstellen. Die Hosenlänge vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Spielkultur und gesellschaftlichen Verhältnisse – steckt darin nicht mindestens ein Dissertationsthema? Keineswegs ist die Entwicklung linear verlaufen. Fragt man sich beim Finale 1937 noch, wieso die Schalker Bornemann und Kuzorra sich in ihren Beinkleidern nicht ständig verheddert haben, so kommt der Dresdner SC im Kriegsjahr 1941 schon mit weniger Stoff aus. Rot-Weiß Essen läßt 1953 die Knie fast wieder verschwinden, doch dann geht der Saum rapide nach oben, bis Borussia Neunkirchen (1959) und der Karlsruher SC (1960) dem staunenden Betrachter erste Hot-Pants-Kreationen vorführen. Die gequälten Gesichter eines Neunkirchners sowie zweier KSC-Spieler verraten aber auch, warum beide Teams diese Endspiele verloren haben (gegen deutlich längerbehoste Uhlenkruger bzw. Bökelberger). Jeder Schritt muß die Unterlegenen übel gekniffen haben.

Später blieben die Hosen relativ kurz, aber immerhin weit genug (Beispiele: Hamburger SV 1963 oder Kickers Offenbach 1970). So war's praktisch und kleidsam, aber als die 80er heranrückten, wurde es erneut eng, und alsbald mußte der Düsseldorfer Köhnen – siehe oben – zur Schere greifen. Erst neuerdings ist wieder Schlabber-Look angesagt, ins Extrem gesteigert durch die Hertha-BSC-Amateure (1993).

Insgesamt ein aufschlußreiches Buch, aus dem sich auch entnehmen läßt, wie der DFB- Pokal anfangs hieß. Tschammer-Pokal, nach dem seinerzeitigen NS-Reichssportführer. Der begründete den Wettbewerb, ausdrücklich nach dem englischen Vorbild, und sorgte alsbald mit dafür, daß auch Mannschaften aus Wien, Lothringen, Luxemburg und anderen „angeschlossenen“ und besetzten Gebieten um seinen Pokal mitspielten. Da hatte das große Vorbild Wembley ausgedient und trägt die Analogie nicht mehr, denn solange auf dem Kontinent Krieg war, ist der englische F.A. Cup nicht ausgetragen worden. Justin Case

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