■ Türkisches Parlament beschließt Verfassungsänderungen
: Keine neue Türkei in Sicht

Was ist die Demokratie den türkischen Abgeordneten wert? Immerhin verzichteten sie auf ihren „bitter verdienten“ Urlaub, verlängerten die Legislaturperiode, um über jene Verfassungsartikel abzustimmen, die den Eindruck erweckten, die Türkei sei kein demokratisches Land. Die von den Militärs angeordnete Verfassung von 1982 steht seit ihrem Bestehen im Kreuzfeuer der Kritik. Sie beschneidet die politischen Rechte der türkischen Bürger derart, daß für manchen politische Betätigung fast schon zum kriminellen Delikt wird. Eine Änderung der Verfassung wurde seit Jahren angestrebt. Zuletzt stand die Regierung von Frau Çiller unter erheblichem Druck, nicht zuletzt des Auslands.

Das jetzt erzielte Ergebnis macht deutlich, daß einige wichtige und notwendige Veränderungen auf der Strecke geblieben sind.

Ein Land, in dem Menschen spurlos verschwinden, in dem Abgeordnete im Gefängnis sitzen, in dem der Terror täglich Dutzende Menschen das Leben kostet, braucht mehr als einige Verfassungsänderungen. Es braucht eine gänzlich neue, von Zivilisten ausgearbeitete Verfassung, die den Realitäten einer pluralistischen und multikulturellen Türkei gerecht wird.

Doch diese Forderungen sind am Schreibtisch schnell formuliert. Schwieriger sind sie durchzusetzen in einem Parlament, das groteskerweise mit demokratischen Spielregeln eine durchgreifende Demokratisierung der Türkei bisher verhindert hat. Für eine Verfassungsänderung ist eine Zweidrittelmehrheit erforderlich. Im türkischen Parlament sitzen elf Parteien. Die Vorstellungen über den Demokratisierungsprozeß gehen auseinander. Für manchen ist die Demokratisierung nur eine lästige Auflage der Europäer für die Zollunion. Nur wenige sehen die Türkei an einem Scheideweg, der zu grundlegenden und weitreichenden Entscheidungen herausfordert. Mit einigen kosmetischen Veränderungen soll der eigentliche, kritische Zustand des Systems kaschiert werden.

Dennoch ist es als Erfolg zu werten, daß einige große Klötze entfernt worden sind, die die politische Partizipation der Bürger behinderten. So durften bislang Studenten oder Gewerkschaftsmitglieder nicht politisch aktiv sein. Jetzt dürfen Parteien endlich offiziell Jugendorganisationen aufbauen. Das Wahlalter wurde von einundzwanzig auf achtzehn Jahre gesenkt. Auf der Strecke geblieben ist dagegen vor allem die Streichung jenes Paragraphen, der die Meinungsfreiheit immer dann einschränkt, wenn die staatliche Integrität und Unteilbarkeit der Türkei debattiert wird. Über die Rechte der Kurden darf in der Türkei weiterhin nicht laut nachgedacht werden. Zafer Șenocak