Haft bei Freunden

Drei Augsburger Gemeinden gewähren Flüchtlingen Kirchenasyl – auch der Familie des untergetauchten Fariz Simsek. Christen demonstrieren gegen CSU-Minister  ■ Von Klaus Wittmann

Ihre Gefangenschaft ist öffentlich, sie wird beschützt, nicht bewacht, und kann doch oft nicht mehr durchatmen. Die 20jährige Sahize Simsek sitzt geschwächt, aber mit hellwachen Augen auf dem Stuhl in einem Zimmer der Pfarrei St. Raphael. Neben ihr die beiden Kinder Leyla (3) und Bilal (4). Wie ihre Mutter sind sie stark abgemagert. „Papa wieder Gefängnis?“ fragt der Junge ängstlich. Jede neue Aufregung verstört die Geschwister. Reporter wollen von der jungen Frau wissen, wie sie drei Monate Kirchenasyl, die Zeit ohne ihren untergetauchten Mann Fariz (29), verkraftet hat.

Sahize Simsek lächelt, streift mit einem freundlichen Blick die Frauen, die ihr helfen, und Pfarrer Peter Brummer. Es gehe ihr sehr gut und sie sei dankbar für die freundliche Aufnahme, antwortet sie. Aber daß sie das Kirchengelände nicht verlassen kann, ohne fürchten zu müssen, sie könnte von Polizisten abgepaßt und gleich abgeschoben werden, belastet sie sehr. Das Alltägliche fehlt ihr, einkaufen gehen, mit den Kindern zur Eisdiele oder ein Spaziergang im nahen Wald.

„Es ist eine Gefangenschaft in sehr freundlicher Umgebung“, sagt der Pfarrer. Ganz schlimm für alle war dieser letzte Donnerstag, wo zwanzig Polizisten vor der katholischen Pfarrei in Steppach bei Augsburg aufmarschierten. Angeblich sollte sich Fariz Simsek in der Nähe aufhalten – was freilich nicht zutraf. Brummer hingegen hatte andere Informationen: „Die wollten Frau Simsek und die Kinder in dem Moment festnehmen, wenn sie das Grundstück verlassen hätten.“ Offensichtlich war damit im Zusammenhang mit der Unterschriftenübergabe für die Simseks im bayerischen Landtag gerechnet worden. Ein unverantwortliches Muskelspiel, finden die Unterstützer. Sahize Simsek verkroch sich mit den Kindern in das kleine Zimmer im Keller.

Ein paar Tage später, am Sonntag abend, erlebten dann rund hundert Gemeindemitglieder eine recht gelöste Sahize Simsek. Ein Fest im Asyl unter dem Motto „Wir suchen Zuflucht“ haben sie mit ihr und den beiden Kindern gefeiert. Ein paar kurdische Freunde sind gekommen, und dann haben sie zusammen Tänze aufgeführt. Sahize hat den Katholiken von St. Raphael die Schritte beigebracht; zuvor hat sie das Weißbrot so gebacken, wie sie es von zu Hause gewöhnt ist. Von der Pfarrei „Zum Guten Hirten“ im Augsburger Univiertel ist Pfarrer Siegfried Fleiner gekommen, der mit seiner Gemeinde einer fünfköpfigen syrisch-orthodoxen Familie Kirchenasyl gewährt. Und der erste Augsburger Kirchenasylbewerber, ein Bengale, der heute in Hildesheim lebt und inzwischen geduldet ist in der Bundesrepublik, ist auch dabeigewesen.

Vor sieben Jahren hatten sich erstmals Augsburger Christen für Asylbewerber engagiert. Seit damals, seit sie für die Bengalen gekämpft haben, sagen sie in der Fuggerstadt, sei nichts mehr so wie früher. Und es sei gewiß kein Zufall, daß das recht konservative Augsburg einmal mehr in den Blickpunkt gerückt ist. Das bayerische Schwarzweißdenken funktioniert nicht mehr in jüngster Zeit, und dem evangelischen Innenminister Beckstein läuft so manches aus dem Ruder. Die unerbittliche Härte, mit der Beckstein & Co. gegen die Kurdenfamilie Simsek vorgehen, die Arroganz bei der Ablehnung aller Duldungsanträge, das Nicht-hinhören-Wollen – das wollen sich die Katholiken in Steppach und Augsburg nicht mehr gefallen lassen. Mit großer Mehrheit (12:2 Stimmen) hat der CSU-Ortsverband Steppach-Neusäß das Kirchenasyl unterstützt. Die CSU-Ortsvorsitzende und Stadträtin Elfi Hottelet versteht ihre Parteifreunde und vor allem Minister Beckstein nicht mehr. Natürlich ist er ihrer Bitte, nach Steppach zu kommen und sich der Diskussion zu stellen, nicht gefolgt. Aber was zählt dann eine Auszeichnung wie die, die ihr kürzlich erst zuteil wurde? Das Bundesverdienstkreuz am Bande hat sie bekommen – für politisches und kirchliches Engagement? Und beides, versichert sie trotzig, werde sie sich nicht nehmen lassen. Die CSU-Frau sammelt genauso Unterschriften für die Simseks wie all die anderen vom Unterstützerkreis. Sie kümmert sich ebenso um die schmächtige Frau und ihre kranken Kinder wie die Aktiven von amnesty und verschiedenen Asyl-Gruppen.

Sie werden politischer, die Leute in Augsburg und anderswo in Bayern. Über 9.000 Unterschriften wurden im Landtag letzte Woche übergeben – vergeblich. Die CSU hielt ihrem Innenminister die Stange. Mehr als 200 Eingaben zugunsten von Fariz Simsek, der in der Türkei nachweislich schwer gefoltert wurde, hat die CSU-Fraktion vom Tisch gefegt. Und dann wundert sie sich, daß an einem Donnerstag nachmittag über tausend Gläubige durch Augsburg ziehen und demonstrieren. Daß ein katholischer Geistlicher zum Wahlboykott gegen die CSU aufruft, wenn diese sich nicht endlich ihres „C“ besinnt. Und daß ein anderer katholischer Pfarrer anmerkt: „Im Grunde genommen ist das C in der CSU eine Beleidigung Christi.“ Ein seltenes Bild sei das gewesen, „diese Demonstranten in Anzug und Krawatte“, freut sich Ute Conrad vom Asylarbeitskreis im Stadtteil Lechhausen.

„Wir halten das auf unbegrenzte Zeit durch“, verkünden unisono die beiden katholischen Pfarrer Siegfried Fleiner und Peter Brummer. Seit dem letzten Wochenende tun auch die evangelischen Kollegen mit. Die Pfarrei St. Ulrich in Augsburg hat dem achtzehnjährigen Assyrer Semun Oguz Kirchenasyl gewährt – mit der Zustimmung des größten Teils der Gemeindemitglieder. „Unsere Gemeindemitglieder und der Kirchenvorstand sind in ihrer Grundhaltung konservativ. Und auch ich würde mich nicht gerade als übermäßig progressiv bezeichnen“, sagt Pfarrer Jürgen Merkel. Doch der Fall Oguz, dessen Familienangehörige bei einer angeblich gefahrlosen Rückreise in die Türkei ihr Leben lassen mußten, sei zu kraß, um untätig zuzusehen.

29 Gemeinden gewähren derzeit Kirchenasyl, sagt die ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft „Asyl in der Kirche“. Hinzu kämen viele Gemeinden, die ihre Aktivitäten nicht öffentlich machten; insgesamt seien derzeit erklärtermaßen 300 Gemeinden bereit, öffentlich oder „still“ Flüchtlinge aufzunehmen und zu verstecken. In 80 Prozent der Fälle erreichten sie eine Duldung oder wenigstens ein faires Verfahren für die Asylsuchenden.

Es ist schon so: Die Gläubigen begehren auf. Als am Wochenende eine Solidaritätserklärung von 225 Pfarrern und Ordensleuten bekannt wurde, ging ein Aufatmen durch die Kirchengemeinden in Steppach und Augsburg. Prälaten, Äbte, Dekane, Theologieprofessoren, ja ganze Klöster unterzeichneten die Solidaritätserklärung. CSU-Mitglieder wechseln sich bei der Betreuung der Flüchtlinge mit Grünen und SPD-Mitgliedern ab. Da fragt keiner mehr den anderen, welcher politischen Gesinnung er anhängt. Da wird schlicht und einfach geholfen.

Es sind Frauen, die sich die Arbeit teilen. Im Pfarrhaus von St. Raphael hängt ein Wochenplan aus, da tragen sie ein, wann sie Zeit haben. Jetzt, wo es heiß ist, bauen sie ein Planschbecken auf und nehmen ihre Kinder mit, damit sie mit Leyla und Bilal spielen können. Seit die beiden kurdischen Kinder in den Kindergarten der Gemeinde gehen und Deutsch lernen, gibt es kaum noch Verständigungsprobleme. Während sie ihre Kinder im Pfarrgarten gut aufgehoben weiß, hilft Sahize Simsek im Pfarrbüro oder stellt sich an den Herd und kocht. Und die Steppacherinnen lernen die kurdische Küche schätzen.

„Das gemeindliche Leben geht wie immer weiter. Aber unsere Einstellung hat sich geändert“, schmunzelt Peter Brummer. „Wir haben zwar seit fünf Jahren immer wieder Vietnamesen bei uns aufgenommen, aber so ein Echo wie im Fall Simsek hatten wir noch nie.“ Brummer kommentiert Becksteins „Kontingent“-Vorschläge mit den Worten: „Viel heißer Wind, wenig dahinter. Ein Befreiungsschlag, der deutlich macht, daß auch er erkannt hat, daß es unerträgliche Härtefälle gibt.“

Das menschenverachtende Asylrecht, da stimmen ihm die Pfarrerskollegen von St. Ulrich und dem „Guten Hirten“ zu, könne nicht widerstandslos hingenommen werden. Pfarrer Fleiner hat sich im konkreten Fall jedoch zu einer anderen Entscheidung durchgerungen: Im Namen des Unterstützerkreises der Familie Akgüc hat er Innenminister Beckstein einen aufsehenerregenden Brief geschrieben. „Die Pfarrei zum Guten Hirten ist bereit, ... sämtliche anfallenden Kosten (Krankenversicherung, Ausbildung der Töchter, Eingliederung der gesamten Familie etc.) zu übernehmen und dafür zu bürgen. Im Gegenzug dazu bekommt die Familie Akgüc eine zeitlich unbegrenzte Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis für die Bundesrepublik Deutschland. Damit entstehen dem Staat keinerlei Kosten, im Gegenteil, die Familie Akgüc wird zum Steuerzahler. Wir sehen in diesem Vorschlag eine Möglichkeit, Ihre Initiative konkret werden zu lassen, und bitten Sie, positiv darüber zu entscheiden.“

Die Entscheidung des Innenministers ist noch nicht gefallen, doch die Initiative liegt längst nicht mehr bei ihm. Die haben dem Polit-Hardliner die Gemeindemitglieder als Wähler aus der Hand genommen. „Wenn er sich dann noch die ungezählten Leserbriefe in der Lokalzeitung zu Gemüte führt, wird Günther Beckstein feststellen, daß all die Versuche, Fariz Simsek als Straftäter hinzustellen, nichts gefruchtet haben“, sagt Ute Konrad vom Asylkreis Lechhausen. Und die Steppacher haben angekündigt, künftig jeden mit einer Unterlassungsklage zu belangen, der behauptet, Fariz Simsek sei bei den gewalttätigen Autobahnkrawallen im März 1994 dabeigewesen. Erklärungen der Polizei würden deutlich machen, das dies nicht der Fall sei.