■ Warum die Tschetschenien-Verhandlungen stocken
: Trotzkis Rezept wird auch diesmal nichts ausrichten

„Wenn es mit den Verhandlungen so weitergeht, müssen wir Grosny erneut besetzen“, sagte neulich ein russischer Hauptmann. Er sprach das offen aus, was seine Generäle im Hinterkopf haben: Die Anerkennug tschetschenischer Unabhängigkeit würde bedeuten, daß der ganze Krieg nicht nur zwecklos, sondern auch ein Verbrechen war. Die „territoriale Integrität“ Rußlands war nämlich der Vorwand gewesen, um diesen Feldzug anzufangen. Die Kriegshetzer haben jetzt Angst, für die Massaker an der Zivilbevölkerung zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Während die Verhandlungen in Grosny stockend vorankommen, schleusen die Tschetschenen immer mehr Waffen und Freischärler in die „befreiten“ Gebiete. Wenn es wieder zu massiven Kriegshandlungen kommen sollte, müssen die russischen Generäle fast von Anfang an neu beginnen.

Doch das ist das letzte, was ihre Auftraggeber im Kreml im Moment brauchen. Boris Jelzin steht vor einer unlösbaren Aufgabe: seine Blamage im Kaukasus zu rechtfertigen und zugleich den Krieg zu beenden. Paradoxerweise gleicht die heutige politischen Situation bis aufs Haar der vor dem Kriegsausbruch. Beide Seiten beschwören nach wie vor ihre „heiligen“ Prinzipien: die Unabhängigkeit beziehungsweise Integrität der Heimat. Dabei geht es Jelzin wie auch Dudajew nur um eines: an der Macht zu bleiben. Das ist die wahre Ursache mangelnder Kompromißbereitschaft der Konfliktparteien. Wenn sie nun auf ihre feierlich proklamierten Prinzipien verzichten, sind sie politisch tot. Dudajew wäre dann kein Volksheld mehr, Jelzin würde die kommenden Wahlen verlieren.

Deswegen hört man immer seltener die Erfolgsmeldungen von beiden Chefunterhändlern, und deswegen werden immer öfter „technische Pausen“ angelegt. Wjatscheslaw Michailow und Usman Imajew streben offensichtlich eine friedliche Lösung an, haben aber so gut wie keine Vollmachten. Die Anweisungen, die der eine von Jelzin und der andere von der tschetschenischen Feldkommandantur erhält, sind in sich widersprüchlich. Das erinnert stark an Orwells „double thought“: Krieg heißt Frieden. Die schizophrene Haltung der Kriegshetzer bringt die Unterhändler zur Verzweiflung. Der stellvertretende russische Delegationsleiter und altehrwürdige sowjetische Apparatschik Arkadij Wolskij wagte sogar, seine eigenen Vorgesetzten zu kritisieren: „Die Bremser und Dummköpfe sitzen auch in Moskau“, meinte er Anfang dieser Woche.

Der russische Chefunterhändler Michailow hegt noch eine Hoffnung. Er greift auf jenes Rezept zurück, das Leo Trotzki anläßlich der Friedensverhandlungen der Sowjetmacht mit dem Deutschen Reich vorgeschlagen hatte: „Den Krieg beenden, aber keinen Friedensvertrag unterzeichnen.“ Gestern besprach Michailow mit Jelzin eine ähnliche Lösung: die politischen Probleme offenzulassen und sich auf den militärischen Vertrag zu konzentrieren. Nur werden sich die Tschetschenen kaum ihr einziges Druckmittel nehmen lassen. Wie bekannt, wurde der Vorschlag von Trotzki in Brest-Litowsk nicht akzeptiert. Wenn sich die Position Jelzins und Dudajews nicht ändert, besteht wenig Hoffnung auf eine friedliche Lösung. Boris Schumatsky