■ Intervention in Bosnien – gleichgeschaltete Öffentlichkeit: Antwort auf Wolfgang Michal (taz vom 25. 7.)
: Pazifismus um jeden Preis

Die hohe Schule der Dialektik will gelernt sein. Wolfgang Michal beherrscht sie mit virtuoser Raffinesse. Der Ruf nach einem militärischen Eingreifen, der unmittelbare „Drang des Helfens“, schreibt der Geo-Redakteur resümierend zum Massenmord in Bosnien, „ist nur eine besonders gewissenhafte Art des Wegschauens“. Wir Deutsche wollen in Wahrheit auch gar nicht helfen, sondern nur das Vierte Deutsche Reich errichten, „ein durchgehendes Einflußgebiet von Borkum bis Basra, von der Adria bis zum Persischen Golf“. Ja, so sind wir: Von einer „humanitären Kampfpresse“ verhetzt, vom „medialen Trommelfeuer“ doppelseitiger „Elendsbilder“ beschossen, von unserem pathologischen Helfersyndrom getrieben, sind wir längst Gefangene des allgemeinen Kriegstaumels – großmachtsüchtig, zerstörerisch, hysterisch. Schreibt Michal.

Wild um sich schlagend, flüchtet sich der Autor aus der Wirklichkeit des bosnischen Schlachthauses in die heile Welt des links- pazifistischen Schrebergartens, wo die weißen Tauben friedlich gurren, wo die Gartenzwerge mit ihren roten Laternlein den rechten Weg weisen, wo die Zeit stehengeblieben ist. Michal sieht Deutschland in einer ungebrochenen historischen Kontinuität: Der „Machtkampf um die Vorherrschaft in Europa sucht sich – wie in den Jahren nach der Reichsgründung 1871 – sein Ventil auf dem Balkan“. Ob 1871, 1914 oder 1995. Für den Autor ist es immer der gleiche Krieg: Serbien muß sterbien. Es gibt keine historischen Brüche, keine Entwicklung, keine demokratische Bundesrepublik, kein heute, gestern und morgen. Bismarck gleich Wilhelm II. gleich Kohl. Sie alle gleichen sich wie eine deutsche Kreuzotter der anderen. Der aggressive teutonische Nationalcharakter, er sitzt unauslöschlich in unseren Genen, zeugt sich naturgesetzlich fort wie Schwachsinn und Plattfüße. So bringen wir also unter Generalfeldmarschall Kinkel unsere Tornados in Stellung, um entschlossen den Balkan zu erobern und um endlich „die Nummer eins in Europa“ zu werden. Blühende Paranoia und verschwörungstheoretische Sandkastenspiele, camoufliert als kühle, geopolitische Analyse. Ach, Wolfgang! Kriegsverbrecher Karadžić ist nach Deiner selbstverordneten Gehirnwäsche dann wohl Widerstandskämpfer gegen die Ustascha-Faschisten und Schlächter Mladić das letzte Bollwerk gegen germanische Kriegstreiber.

Nein, wir Deutschen haben nichts dazugelernt, glaubt Michal. Bis auf die Kunst des Heuchelns, der pseudodemokratischen Mimikry. Nach seiner Überzeugung schwimmt der deutsche Hecht also kaulquappengleich im europäischen Pool und will doch nur die anderen fressen. Nachdem wir es in zwei Weltkriegen nicht geschafft haben, Europa mit Panzer und Bajonett einzugemeinden, versucht Kohl, der Fuchs, es jetzt „mit aller Gewalt“ über „die europäische Einigung“. Und weil wir die Unterjochung Europas nicht auf direktem Weg durchsetzen können, flüchten wir immer wieder „auf allerlei Nebenkriegsschauplätze: Brent Spar, Moruroa, Bosnien“. So wird jeder Müsliesser, der gegen Atomtests demonstriert, zu einem Westentaschen-Macchiavelli, der dem Erbfeind seine Nuklearstreitmacht neidet. Jeder Brent-Spar-Aktivist wird zum Mini-Bismarck, der den Briten ihr Nordsee-Öl abzapfen will. Und Greenpeace („Rainbow Warrior“ sic!) ist dann die perfekt getarnte Kriegsmarine der deutschen Expansionspolitik.

Längst jedoch haben Franzosen und Briten unsere abgefeimte Ablenkungstaktik durchschaut, unsere heimtückische Expansionsstrategie entlarvt. Doch auch unsere Nachbarn haben ausgefuchste Diplomaten und Dialektiker. So heißt es in Paris und London zwar: „Germans to the Front!“ Nach Michalscher Lesart bedeutet das freilich nichts anderes als: Nazi go home! Logo. Versteht doch schon jeder Knirps im Hosenscheißeralter, was der Papa wirklich meint, wenn er den Zeigefinger reckt und sagt: „Mach das ja noch mal!“

Am schlimmsten aber sind die Hetzer in den gleichgeschalteten Medien. Abend für Abend stören sie uns bei der Entlarvung deutscher Großmachtpolitik mit den Bildern blutbesudelter Kriegsopfer, mit weinenden Müttern und toten Kindern. Sie kennen kein Tabu. Die Schreckensbilder vernebeln unser Hirn, blockieren unseren Intellekt und stacheln falsche Emotionen an, solange bis „jede vernünftige Analysefähigkeit ... verlorengegangen“ ist, bis wir in unserer Gefühlsduselei ersaufen.

Wie weit muß das eigene Weltbild in Trümmern liegen, wenn die Überreste so besessen verteidigt werden. Da wird die Wirklichkeit verbogen, umgedeutet und geleugnet, da wird die unbequeme Frage nach der Hilfe für die Kriegsopfer zur alleinigen Frage nach außenpolitischen Strategien. Da wird schlichtes Mitgefühl als Analyseuntauglichkeit denunziert. Und die Toten und Vergewaltigten, die Flüchtlinge und Verhungernden sind nicht länger Zeugen des großserbischen Terrors, sondern Figuren auf dem geopolitischen Schachbrett. Mit solch intellektuellen Klimmzügen schafft der Autor es mühelos, seine eigene Hilflosigkeit, Wut und Trauer über Bosnien zu therapieren, sich der Mitmenschlichkeit zu verweigern.

Den bosnischen Opfern hat Michal nichts anzubieten als den Trost, auch fürderhin massenhaft für eine gute Sache zu sterben: für die fromme Gesinnung eines erbarmungslosen Pazifismus, für das heilige Dogma der Nichteinmischung um jeden Preis, für ein politisch korrektes Deutschland.

Nach vier Jahren Krieg gibt es keine gute Lösung für Bosnien. Klar ist nur: Die Kriegsverbrecher Karadžić und Mladić weiter gewähren lassen bedeutet, die „ethnische Separierung“ von Muslimen, Kroaten und Serben zu tolerieren. Was wir uns darunter vorstellen dürfen, wird uns seit 1991 tagtäglich von den serbischen „Befreiungstruppen“ vorgeführt: Granatenhagel auf unbewaffnete „Schutzzonen“, Massenvergewaltigungen bosnischer Frauen, Konzentrationslager, Exekutionen, Hungerepidemien, Vertreibung und Flucht. Nach Jahren des Zögerns, Hinhaltens und Taktierens erscheint dies endlich auch der Weltgemeinschaft – und nicht einigen deutschen Imperialisten – nicht länger hinnehmbar.

Die Alternativen heißen: Bewaffnung der muslimischen Bosnier oder ein militärisches Eingreifen mit UN-Mandat. Beides trägt das Risiko einer kaum kalkulierbaren militärischen Eskalation. Aber beides birgt zumindest die Chance, den Völkermord in Bosnien zu stoppen, dem großserbischen Wahn Einhalt zu gebieten.

Wer die international immer lauter erhobene Forderung, militärisch einzugreifen, zur ausschließlich deutschen Frage verkürzt, das reale Schicksal der Bosnier ignoriert und zur eingebildeten Schicksalsfrage der Bundesrepublik stilisiert, der ist genau dort angekommen, wo er die vermeintlichen Kriegstreiber verortet hat: im nationalen Sumpf. Mittendrin. Manfred Kriener, Walter Saller