Der letzte Fluchtweg in den Tod

■ Wegen drohender Abschiebung haben sich seit Oktober 1993 zwanzig Menschen das Leben genommen / Pro Asyl fordert Einsetzung von Expertenkommission

Berlin (taz) – Sie fanden ihn sechs Tage nach seinem Tod. Bei Donaustauf, unterhalb von Regensburg, fischten städtische Bedienstete die Leiche von Yohannes Alemu aus der Donau. In der Nacht zum 10. Februar dieses Jahres hatte sich der 28jährige Äthiopier von der Nibelungenbrücke in Regensburg in den Fluß gestürzt. Sein Asylantrag war einige Tage zuvor vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof in letzter Instanz abgelehnt worden.

„Wenn ich zurück muß, bin ich tot“, hatte er zuvor seinen Freunden erzählt. Die hatten bis zuletzt nicht an eine Ablehnung geglaubt. Zu eindeutig schien sein Fall: Der Journalist Yohannes Alemu konnte vor dem Gericht seine Verfolgungsgeschichte lückenlos nachweisen. Er gehörte zur äthiopischen Minderheit der christlich- evangelischen Amharen, war Mitbegründer der AAPO (Organisation aller Amharen), wurde wegen dieses Engagements mehrfach in Addis Abeba verhaftet und im Gefängnis wiederholt mit Elektroschocks gefoltert. Als ihm im Juli 1993 die Flucht aus Äthiopien in die Bundesrepublik gelang, hatte er geheime Schriften des von der ehemaligen Rebellenbewegung EPRDF kontrollierten Ministeriums im Gepäck. Am 21. März wurde Yohannes Alemu in Regensburg beerdigt.

Laut einer Liste, die die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl vorgestern veröffentlichte, haben sich seit Inkrafttreten des sogenannten Asylkompromisses im Oktober 1993 zwanzig Menschen aus Angst vor der Abschiebung das Leben genommen, elf davon seit Juni vergangenen Jahres. Mit seiner mühsam über Regionalzeitungen zusammengestellten Liste – es gibt keine offizielle Statistik – reagierte Pro Asyl auf eine Anwort der Bundesregierung an die PDS. In der Antwort hatte das Innenministerium behauptet, daß in den vergangenen zwei Jahren fünf Asylbewerber in den Abschiebegefängnissen Suizid begangen hätten.

Die Bundesregierung will die „katastrophalen Auswirkungen des Turbo-Ablehnungsverfahrens herunterspielen“, erklärte ein Sprecher von Pro Asyl, sie zähle nur „die nicht mehr zu verheimlichenden“ Todesfälle. Und erst recht natürlich nicht die vielen Selbstmordversuche und Selbstverstümmelungen, all die furchtbaren Versuche, das Asylverfahren zu verlängern.

In der Todesstatistik von Pro Asyl ist Yohannes Alemu weder der einzige Äthiopier noch der einzige Asylbewerber, der sich in der Stadt Regensburg umgebracht hat. Am 19. Mai 1995 erhängte sich der Inder Jaswant Singh aus dem Punjab im Bezirkskrankenhaus von Regensburg, in das er wegen Selbstmordgefährdung einige Tage zuvor eingeliefert worden war. Pfleger endeckten ihn im letzten Moment, aber der Inder konnte nicht mehr gerettet werden. Er starb nach zehn Tagen im Koma. Der 33jährige sollte abgeschoben werden, obwohl er seit zehn Jahren mit fester Adresse im Landkreis Cham wohnte, mit deutscher Lebensgefährtin und gemeinsamem Kind. Anderthalb Jahre vorher hatte sich ebenfalls im Regensburg und im Gefängnis der 26jährige Nigerianer Osazuwa Omah am Fensterkreuz aufgehängt.

Und in Würzburg erhängte sich am 26. Februar 1995 der 37jährige äthiopische Ingenieur Abijou Tilaye in seiner Gefängniszelle. Auch er war Amharer, auch er war Mitglied der AAPO, auch er war vor seiner Flucht mehrfach in Addis Abeba verhaftet worden. Sechs Monate hatte er zuvor im Abschiebeknast gesessen. Als der Häftling mit der Nummer 1016/94 dann wirklich starb, wollte niemand mehr von seiner Qual gewußt haben. „Wir haben ihn behandelt wie jeden anderen Häftling auch“, meinte ein Justizbeamter. Die Abschiebeschonzeit für seine Frau lief Ende April ab; eine kleine Terminverlängerung aus humanitären Gründen, damit sie ihren Mann noch beerdigen konnte.

Pro Asyl forderte jetzt die Einrichtung einer Expertenkommission, die die Situation in den Abschiebehaftanstalten untersuchen soll. Die Verzweiflungstaten müßten dazu führen, daß die Abschiebepraktiken in Deutschland verändert werden. Sie seien rechtswidrig und verletzten die Würde des Menschen. Ändern müsse sich ebenfalls die Asylgesetzgebung in den Staaten der Europäischen Union. Solange die Nationen sich abschotteten, bleibe den Flüchtlingen oft keine andere Wahl, als die Dienste von dubiosen und oft kriminellen Schlepperorganisationen in Anspruch zu nehmen. In Ungarn erstickten erst vor zwei Wochen 18 Flüchtlinge aus Sri Lanka in einem überhitzten, aus Rumänien kommenden Lkw. Anita Kugler