"Blavatzkys Kinder" - Teil 12 (Krimi)

Teil 12

„Lauf weg! Bitte lauf weg!“ keuchte der sterbende Junge. „Lauf weg, Benni, sonst kriegen sie dich auch!“

Und immer genau an dieser Stelle seines Traums wachte Benjamin auf.

Er brauchte lange, bis er sich vergewissert hatte, daß es wieder nur ein Traum gewesen war. Nur ein Traum? Je öfter er diese nächtlichen Erlebnisse hatte, desto unsicherer wurde er, denn sein einziger Freund in diesem Heim war wirklich verschwunden. Eines Nachts waren drei Männer in den Schlafsaal gekommen. Sie hatten sich Mühe gegeben, leise zu sein, aber Benjamin war zufällig wach gewesen, weil er Bauchschmerzen hatte. Die Eindringlinge hatten sich mit einem Tuch über Benjamins Freund gebeugt, der drei Betten von ihm entfernt schlief. Michael hatte noch einmal geächzt und dann keinen Laut mehr von sich gegeben, als ihn die Männer forttrugen.

Am nächsten Tag hatte Benjamin überall nach seinem Freund gesucht. Obwohl ihm die Aufseherin große Angst einjagte, hatte er seinen ganzen Mut zusammengenommen und sie nach Michael gefragt.

„Den hat ein Ehepaar adoptiert“, hatte Schwester Elisabeth behauptet.

„Nein, den haben drei Männer heute nacht ...“

„Red nicht so einen Unsinn! Heute morgen war ein sehr anständiges Ehepaar hier und hat ihn mitgenommen. Ihm geht es gut. Und nun geh frühstücken!

Benjamin lag in seinem feuchten Bett und wartete, bis die Klingel läutete. Man würde ihn heute wieder bestrafen. Es war sechs Uhr. Sie hatten nur fünfzehn Minuten, um ihre Betten zu machen. Punkt sechs Uhr dreißig stand der Erzieher in der Tür, und sie mußten vor ihren Betten strammstehen, während er langsam von einem zum anderen schritt. Wenn etwas auf dem Nachttisch lag oder eine Bettdecke unordentlich vom Bett hing oder ein Laken naß war, drohten drastische Strafen.

Der Junge stand mit wackeligen Knien vor seinem Bett. Sein Name Benjamin sei nicht „arisch“ hatte der Meister des Lebenshofes schon damals, als Benjamin hier neu war, entschieden. Eine Zeit, an die er sich kaum erinnerte. Man hatte ihn Bernhard genannt. Ein deutscher Name für einen blonden, blauäugigen Jungen. Der Erzieher machte Stichproben. Er hob auch Benjamins Decke an und sah auf das Kind hinunter. „Bernhard, sieben Uhr!“ Der Junge nickte. Mehr brauchte der Mann nicht zu sagen. „Sieben Uhr“ hieß: Komm um sieben Uhr in den Keller. Keine Minute später. Du bekommst kein Frühstück, dafür Prügel.

* * *

So angenehm der Abend gewesen war, so unfreundlich gestaltete sich der nächste Tag. Auf dem Polizeirevier hielt ihnen ein Polizeibeamter einen langweiligen Vortrag über die Entwicklung der Kriminalität in Budapest. „Hat der sonst niemanden, der ihm zuhört?“ flüsterte Robert.

„Bitte, reden Sie doch weiter“, sagte Miriam zu dem irritierten Polizisten.

Soliza saß mit gesenktem Kopf auf einem Stuhl zwischen ihnen.

„Gestern abend hat man eine kurva, eine Nutte, überfallen und vergewaltigt – wenn man eine Nutte überhaupt vergewaltigen kann. Man hat ihr das Geld gestohlen und die Nase gebrochen. Sollen wir uns etwa auch noch darum kümmern?“

Er schob sein Gesicht dicht vor Miriams.

„Selbstverständlich“, antwortete Miriam.

„Es war eine Zigeunerin, eine Mária sonstnochwie. Sie gehen auf den Straßenstrich. Was soll ich tun? Ukrainer und Russen drängen auf den Markt. Mit Sex fängt's an, als nächstes kommen Waffen und Drogen.“

Die sind schon da“, sagte Robert.

„Na, ja, zum Teil sind sie schon da“, gab der Polizist zu.

„Sie wissen so gut wie wir, daß schon vor Beginn des Kriegs auf dem Balkan die Waffen aus Deutschland und Österreich durch Ungarn geschafft wurden. Und daß seitdem tonnenweise Waffen nach Osten und Drogen nach Westen fließen“, gab Robert noch einen drauf. „Aber lassen wir das heute. Wie können Sie Soliza helfen?“

Pásztor hatte keine Ahnung und wohl auch kein Interesse an dem Fall und verwies sie an die Deutsche Botschaft. Er bemühte sich, seinen Besuchern Ratschläge zu geben.

„Sein Tip ist nicht viel wert“, vermutete Miriam auf dem Weg zur Botschaft. Die Auskunft, die sie dort erhielten, half ihnen nicht weiter.

„Ach wissen Sie, diese Zigeuner erzählen gern Geschichten“, äffte Miriam den hochnäsigen Botschaftsangehörigen nach. „Kinderhandel in Deutschland? Ihre Bekannte sucht wohl einen Grund für einen Asylantrag?“

Fortsetzung folgt