„Waren es deutsche Scharfschützen?“

■ Kinder der in München 1972 ermordeten Israelis verlangen Aufklärung: Vor Gericht

Die Entführung israelischer Sportler durch palästinensische Terroristen und deren Ermordung während der „heiteren Spiele“ von München 1972 hinterläßt bis heute Fragen. Hat IOC-Präsident Brundage („The games must go on“) Innenminister Genscher in der Nacht zum 6. Dezember 1972 zu einem vorschnellen Handeln getrieben, das nach den zwei im Olympischen Dorf ermordeten Israelis auch den neun Geiseln das Leben kostete? Anouk Spitzer (23), Tochter des israelischen Sportlers Andre Spitzer, der in Fürstenfeldbruck ermordet wurde, will diesen Herbst vor einem deutschen Gericht Klärung: „Wir haben ein Recht“, sagt Spitzer, „zu erfahren, wer verantwortlich war.“

taz: Als ihr Vater starb, waren sie gerade zwei Monate alt.

Anouk Spitzer: Sicher kann ich mich nicht persönlich an meinen Vater erinnern. Doch meine Mutter hat die Erinnerung an ihn wachgehalten. Doch es ist nicht nur die Liebe einer Tochter zu ihrem toten Vater, sondern auch die Liebe für seinen Traum, für den er bis zu seinem Tode eintrat. Er war überzeugt davon, daß alle Menschen gleichberechtigt seien. Als mein Vater nach München reiste, ging er als Athlet und nicht als Jude oder als Israeli. Doch weil er Jude und Israeli war, mußte er sterben. Man hat nicht nur ihn, sondern auch seinen Traum ermordet. Doch an diesem Traum halte ich fest.

Wird der Opfer des Attentats von 1972 nicht genug gedacht?

Es war für mich ein bewegender Augenblick, als das gesamte Stadion bei den Makkabi Spielen mit einer Gedenkminute der Opfer gedachte. Seit Jahren versucht meine Mutter, die Erinnerung an die Ermordeten am Leben zu erhalten, vor allem bei den Olympischen Spielen. Man begegnete ihr allerdings nur mit Ablehnung. Das einzige, was sie wollte, war bei den Olympischen Spielen 1976 in Montreal eine Gedenkminute. Das IOC lehnte mit der Begründung ab, eine solche Minute wäre ein politischer Akt. Meine Mutter und die Angehörigen der anderen Opfer wollten jedoch nicht der elf toten Israelis, sondern der elf toten Athleten gedenken.

Das IOC will die Toten totschweigen?

1992 fuhr ich zu den Olympischen Spielen nach Barcelona. Ich sitze dort im Stadion und über einem großen Bildschirm werden die Höhepunkte aller Olympischen Spiele gezeigt. München 1972, Mark Spitz gewinnt sieben Goldmedaillen, aber kein Wort über das Attentat. Man gewährte mir eine Audienz beim IOC-Vorsitzenden Samaranch. Er gab mir einige Geschenke und war sehr höflich. Als ich ihm jedoch sagte, warum ich da sei, schien er überrascht. Er entschuldigte sich und versprach, daß etwas bei den Olympischen Spielen 1996 in Atlanta getan wird – wir werden sehen.

Ihre Mutter und Sie ziehen mit anderen Angehörigen der Opfer in Deutschland vor Gericht. Was versprechen Sie sich davon?

Vor allem erhoffen wir uns Aufklärung. Bis zum heutigen Tage weiß ich nicht, wie mein Vater ums Leben kam. Wurde er durch die palästinensischen Terroristen erschossen, oder wurde er durch eine Handgranate getötet? Oder war es die Inkompetenz der deutschen Polizei? Wurde mein Vater durch deutsche Scharfschützen ermordet? Vielleicht scheint das für manche Menschen irrelevant zu sein, uns aber wird es helfen, den Kreis zu schließen. Wir möchten wissen, wer verantwortlich war. Wir haben ein Recht darauf, es zu erfahren! Interview: Eric Friedler