Die Idylle ist zerstört

■ Der Streit um die Umbenennung der Reichssportfeldstraße verläuft mitten durch das Corbusierhaus. Drohanrufe und Feindseligkeiten sind keine Seltenheit.

„Reichssportfeldstraße Nr. 16“ steht auf dem Schild am Eingang der Parkanlage. Ein gepflasterter Weg führt durch den Park hindurch, an einem Spielplatz vorbei zur Nummer 16 – dem Corbusierhaus. Im Erdgeschoß befinden sich ein Lebensmittelladen, ein Zeitungskiosk und ein Blumengeschäft. Das zehnstöckige Hochhaus an der Reichssportfeldstraße in Charlottenburg wirkt trotz der 560 Wohnungen wie ein Dorf in der Stadt. Einkaufen und Erholung direkt vor der Haustür; wer in einem der oberen Stockwerke wohnt, kann zudem ein Panorama über halb Berlin genießen.

Doch die Idylle trügt. Seit einigen Monaten ist zwischen den Bewohnern des Corbusierhauses ein heftiger Streit entbrannt. Den Stein ins Rollen brachte ein Mieter im achten Stock. Otto Eigen setzt sich seit knapp drei Jahren für die Umbenennung der „Reichssportfeldstraße“ in „Flatowallee“ ein. Der Nazi-Straßenname soll verschwinden; statt dessen sollen die von den Nationalsozialisten ermordeten jüdischen Olympiasieger von 1936, Alfred und Gustav- Felix Flatow, geehrt werden. Mit Hartnäckigkeit erreichten Eigen und sein Freund Gottfried Arend, daß in der Bezirksverordnetenversammlung gegen die Stimmen der CDU ein entsprechender Beschluß gefaßt wurde.

Doch damit fing der Ärger erst richtig an. Denn im Corbusierhaus wohnen über 90 Prozent der von der Umbenennung betroffenen Bürger. Kaum war der BVV- Beschluß gefällt, gründete sich eine Initiative, die gegen die Flatowallee mobil machte. Über 300 Widersprüche wurden beim Bezirksamt eingelegt. „Jetzt werden wir dafür bestraft, daß wir uns gewehrt haben. Das ist die größte Sauerei des Jahrhunderts“, schimpft ein achtzigjähriger Anwohner. 65 Mark Verfahrenskosten fordert das Bezirksamt von jedem, der in Widerspruch gegangen ist. „Das Thema beschäftigt die Leute sehr. Ich schätze, daß 90 Prozent gegen eine Umbenennung sind“, meint El-Fares Fares, der Inhaber des Lebensmittelgeschäfts im Parterre. Die hohen Kosten für die Änderung von Visitenkarten, Briefbögen und Stempeln sind das meistgenannte Argument gegen die Namensänderung. Außerdem hält der überwiegende Teil der Bewohner den Namen „Reichssportfeldstraße“ für politisch unbelastet.

Ging es zunächst um die Änderung des Straßennamens an sich, beschäftigt die Umbenennungsgegner inzwischen am meisten, daß sie vom Bezirksamt zur Kasse gebeten werden. Fares selbst hält die Umbenennung für verspätet. „Das hätte gleich nach dem Krieg passieren sollen. Jetzt macht das keinen Sinn mehr“, meint er. Mit Eigen habe er auch diskutiert. „Der hat seine eigene Meinung. Das muß man akzeptieren“, findet der Geschäftsinhaber.

So tolerant wie er sind nicht alle im Corbusierhaus. „Hier sitzt so einer von den Grünen. Der hat das alles angeleiert“, beschwert sich Klaus Hingst über seinen rührigen Nachbarn, der allerdings SPD- Mitglied ist. „Ich steh' ja voll auf Eigens Seite. Aber der hat jetzt 'nen schweren Stand hier im Haus“, beschreibt ein anderer Mieter die angespannte Atmosphäre. Eigen selber berichtet über anonyme Anrufe, in denen ihm geraten wurde, er solle endlich Ruhe geben. „Und vor einigen Wochen wurde mein Namensschild am Stummen Portier in der Eingangshalle entfernt“, erzählt er.

Zwar meinen viele der Anwohner, im alltäglichen Zusammenleben spiele die Umbenennung keine Rolle, Feindseligkeiten gebe es nicht. Diejenigen, die die Umbenennung aktiv unterstützen, sehen das jedoch anders. „Ich werde viel weniger gegrüßt. Und meine Angebote, alte Frauen zur Bushaltestelle mitzunehmen, werden sehr häufig abgelehnt“, erzählt eine der Aktivistinnen, die ihren Namen nicht nennen will.

Freundlich ist man im Corbusierhaus so lange, wie alles seine Ordnung hat. Das hohe Gut „Ordnung“ ist leicht zu stören im Charlottenburger Idyll. Vor einigen Wochen organisierte der „Bürgerbund“ eine Veranstaltung vor dem Haus, auf der für eine „bürgernahe“ Entscheidung in dem Namensstreit geworben wurde. Otto Eigen und Gottfried Arend bauten daraufhin einen Stand auf, an dem sie über ihren Vorschlag zur Umbenennung informierten. Innerhalb kürzester Zeit wurden sie vom Eigentümerbeirat aufgefordert, das Gelände zu verlassen, weil sich die Bewohner belästigt fühlten.

Aber nicht nur Eigen und Arend belästigen die Anwohner. Auch die taz ist ein potentieller Störenfried. „Das hier ist ein Privatgelände. Ohne Genehmigung der Eigentümervertretung dürfen Sie sich hier nicht aufhalten“, schnauzt der Haustechniker angesichts der Gespräche mit den Bewohnern los. Schließlich holt er sich die Bestätigung von der Hausverwaltung: „Ohne schriftlichen Antrag ist es der Presse nicht gestattet, sich auf dem Gelände aufzuhalten.“ Haustechniker Seifert ist glücklich: Die Ordnung im Corbusierhaus ist wieder hergestellt. Gesa Schulz