"Blavatzkys Kinder" - Teil 16 (Krimi)

Teil 16

„Ich kann mir ein Zimmer in ihrem kleinen Haus mit ihrer Enkelin teilen. Im Weinberg gibt es Arbeit für mich. Ich bekomme dort mein Kind, und bald höre ich von euch.“ Solizas Stimme enthielt keinen Zweifel. „Es ist euer Land, dieses Deutschland. Ihr könnt die Kinder finden.“

Soliza verlangte Berichte über jeden Schritt ihrer Suche nach Rjako und Diwnas. Postlagernd Postamt Eger. Sie selbst würde ab und zu schreiben, wie es ihr ging und was sie von Ana gehört hatte. Und Ion Petrescu sollte von allem eine Kopie bekommen. Der alte Journalist wurde zu einer Art Nachrichtenvermittlungsstelle.

* * *

In der Bibliothek im Haupthaus saßen Gottfried Schulte, Oberschwester Elisabeth Meixner und ein Kinderarzt des Lebenshofs, Dr. Hans Sawetzky. Ihre tägliche Vormittagsbesprechung wurde durch einen Telefonanruf unterbrochen. Schulte nahm ab.

„Gut. Wir kommen rüber.“

Er wandte sich an die Oberschwester und den Arzt: „Die neue Lieferung ist angekommen.“

Alle verließen den Raum.

Wenige hundert Meter vom Schloß entfernt lag der Kinderhof hinter hohen Mauern, die von riesigen Bäumen verborgen wurden. Es gab nur zwei Eingänge in das Areal. Zum einen das dem Schloß nahe gelegene, schmale, verschlossene Tor in einem dunklen Winkel des Parks. Der andere befand sich auf der Rückseite des Kinderhofs und war breit genug für Busse, Liefer- und Krankenwagen. Im Vorhof konnten auch große Busse bequem parken und sogar wenden. Niemand hatte von hier aus Einsicht in den eigentlichen Kinderhof. Heute war ein kleiner Bus angekommen und spuckte soeben seine Ladung aus: neun Kinder im Alter zwischen wenigen Monaten und etwa elf Jahren. Die Kinder wurden demonstrativ herzlich begrüßt, bis der Busfahrer das Gelände verlassen hatte.

Dann ging alles sehr schnell. Zwei Säuglinge wurden einer Schwester übergeben, die Oberschwester Elisabeth herbeigerufen hatte.

„Was für eine miese Qualität“, fluchte Schulte, der neben dem Arzt an der Mauer lehnte und die Szene beobachtete. Die Kinder waren müde, hungrig, krabbelten und torkelten mehr, als daß sie noch laufen konnten. Sie waren die ganze Nacht unterwegs gewesen. Ihre Müdigkeit würde sich geben, aber, verflucht, weder das Alter stimmte noch die Hautfarbe.

„Sehen Sie sich das an! Höchstens drei Kinder sind für die Kategorie I gut genug! Das große Mädchen erreicht vielleicht noch Kategorie III.“

Um achtzehn Uhr versammelten sich alle Kinder im Speisesaal, einem länglichen Raum mit langen Holztischen und Holzbänken, die für etwa fünfzig bis sechzig Kinder Platz boten. An der Wand hingen Kreuze. Schwester Luise stand an der Tür und gab Kommandos. Ein Kind nach dem anderen zog mit kleinen Tabletts schweigend zur Küchentheke, um sich das Essen zu holen. Es war den Kindern bei Strafe verboten, beim Essen zu reden. Sie mußten vor jeder Mahlzeit beten und sich bei Tisch kerzengerade halten. Vor ihnen standen Krüge mit Leitungswasser. Benjamin sah auf seinen Teller, schon wieder Frischkornbrei, dieses kalte, grobe, bittere Zeug. Er sehnte sich nach Schokolade oder Kuchen oder Würstchen. Aber hier behaupteten sie, daß „Fabrikzucker“ ungesund sei, und Süßigkeiten aller Art waren bei Strafe verboten.

Ihm gegenüber saß ein Kind mit gesenktem Kopf. Diwnas war erst kurze Zeit hier und meistens traurig. Das Mädchen sprach auf eine Art, wie er sie noch nie gehört hatte. Sie wurde „eingedeutscht“, hieß es, und das war anstrengend, wie er sich erinnerte. Seine Eindeutschung war auch noch nicht abgeschlossen.

Er konnte die strenge Sprache schon ganz gut. Wenn die Männer ihn fragten, ob er sich erinnerte, fragte er „Woran?“, machte große Augen und gab vor, nicht zu wissen, wovon sie sprachen. Abends, bevor er einschlief, versuchte er sich oft zu erinnern. Woher kam er? Er trainierte heimlich seinen Verstand. Er wußte noch ganz genau, daß es ein Vorher gegeben hatte, daß er hier nicht geboren worden war. Auch wenn sein Kopf vor Anstrengung fast platzte, war da meist bloß ein pechschwarzes Loch, als wenn Mond und Sterne vom Nachthimmel gefegt worden waren.

Nur manchmal, wenn er tagsüber nicht soviel Angst gehabt hatte, wurden die Bilder aus seiner Vergangenheit wieder etwas deutlicher. Ein Bild war einmal plötzlich ganz hell und scharf geworden. Er hatte sich in den Straßen einer Stadt spielen sehen. Er war mit einigen anderen Kindern einem Ball nachgejagt. Die Straße war nicht asphaltiert und staubig.

Fortsetzung folgt