Mit Stöcken wieder rein ins Wasser

An Oder und Neiße werden Leichen ertrunkener Flüchtlinge angeschwemmt. In diesem Jahr waren es sechs. Niemand will für ihre Beerdigung zahlen, so werden die Toten in den Fluß zurückgeworfen  ■ Von Markus Franz

Bei Ratzdorf fließt die Neiße schmal wie ein Feldweg in die Oder. Hinter der Mündung, nicht weit vom Ufer drehen sich Blätter ohne Entrinnen im Kreis. Das Wasser hat Löcher hier wie Mulden in losem Sand. Eine Plastikdose mit grünem Deckel kommt angeschwommen, schießt auf die rotierenden Blätter zu, dreht sich mit, löst sich wieder und ist in einer halben Minute aus dem Blickfeld verschwunden. Mücken und Libellen schwirren im Sonnenlicht dicht über dem Wasser. Tagsüber.

Nachts ist das Wasser der Oder schwarz. Die, die nachts kommen, sehen die Strudel nicht, auf denen sich die Blätter drehen, bis sie zerfetzt sind. Und nichts zeigt ihnen an, mit welchem Tempo der Grenzfluß der Ostsee zustrebt.

Sechs Flüchtlinge sind in diesem Jahr ertrunken bei dem Versuch, durch Oder und Neiße von Polen nach Deutschland zu gelangen. Im vergangenen Jahr waren es zwanzig. Mindestens. Denn Wasserschutzpolizei und Bundesgrenzschutz (BGS) registrieren nur jene, deren Leichen gefunden werden.

Das Interesse der deutschen Grenzgemeinden am Auffinden von Wasserleichen aber ist denkbar gering. Denn sie müssen zahlen: 1000 bis 1500 Mark kostet sie das Begräbnis eines ertrunkenen Flüchtlings.

Und so ist es in Ratzdorf, Wellmitz und Brieskow-Finkenherd, von Frankfurt/Oder bis Eisenhüttenstadt ein offenes Geheimnis, daß die angeschwemmten Toten auch schon mal zurück in den Fluß gestoßen werden. Der Leiter eines Amtes in Neuzelle weiß sogar, wie: „Mit Bohnenstangen ...“.

Der Rentner, der in weißem Unterhemd und schwarzer Turnhose das frischgemähte Gras auf seinem Grundstück in Ratzdorf zusammenharkt, gerät in Rage, wenn es um das „Pack“ geht, das regelmäßig über die flache Neiße nach Ratzdorf kommt. „Die sollen bleiben, wo sie sind, nach dem Zweiten Weltkrieg hat uns auch keiner geholfen“, sagt er erregt. Ob er persönlich schon Ärger mit den Flüchtlingen gehabt hat? „Geklaut haben die noch nichts“, erwidert der Mann.

Ab und zu kämen Autos mit Gubener Kennzeichen vorbei und sammelten sie auf. „Das ist alles perfekt organisiert.“ Wasserleichen hat er selbst noch nicht gesehen, obwohl er häufig angeln geht. Und wenn, meint er, „würde ich sofort die Angel einpacken und stiften gehen.“ Ob er die Gemeinde unterrichten würde? „Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht“, sagt er nachdenklich. „Ich glaub' aber nicht.“ Und lauter werdend: „Das würde die Gemeinde ja Geld kosten. Wir müssen schließlich die Beerdigung bezahlen.“

Sein Schwiegersohn hat ihm erzählt, „daß die Angler bei Wiesental und noch weiter runter die Leichen von den Bojen oder aus dem Gestrüpp lösen und dann weitertreiben lassen.“ Wie er das findet? „Das geht mich nichts an.“

Der Ratzdorfer Eckehardt Just kann sich nicht vorstellen, was geschieht, wenn Bohnenstangen zum Einsatz kommen: „Wer würde denn so etwas Schreckliches tun?“ Doch als Gemeindevertreter erinnert er sich an einen Streit mit den Wellmitzern vor zwei Jahren. Flußabwärts war ein Toter gefunden worden. „Die Wellmitzer haben versucht, uns die Beerdigungskosten unterzuschieben.“ Dann hätten sie aber doch nachgeben müssen, weil die Leiche sich eindeutig in ihrer Gemarkung befunden habe. „Das kann den Haushalt einer kleinen Gemeinde erheblich in Schwierigkeiten bringen.“ Der Streit zeige, meint Just, daß es falsch sei, den Gemeinden die Beerdigungskosten aufzubürden.

Der Pfarrer der evangelischen Kirche in Wellmitz, Andreas Althausen, hat zwar schon mal etwas von in der Oder ertrunkenen Flüchtlingen gehört, in Wellmitz sei aber keiner begraben, versichert er. Ein Anruf in der Verwaltung des Ortes klärt ihn auf. „Ach, auf dem Inselfriedhof in Eisenhüttenstadt, ... 1.000 Mark.“ Dann schweigt der Pfarrer erst mal, mit der Hand reibt er sich das Kinn.

„Gott sei Dank konnte der Tote nicht identifiziert werden“, sagt sein Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung, „sonst hätten wir die Überführungskosten zahlen müssen.“ Und das kann teuer werden. Die Leiche muß gekühlt aufbewahrt werden, bis sie identifiziert ist. In einem Zinksarg wird sie dann in die Heimat des Gestorbenen geflogen. Die Kosten addieren sich leicht auf 10.000 Mark. „Für eine kleine Gemeinde wie Wellmitz ist das tödlich.“ Langsam steht der Pfarrer vom Schreibtisch auf. „Die halten zusammen in der Verwaltung, die sagen keinen Piep. Deswegen habe ich bisher nichts gehört.“

Bekannt für die Leichenfunde ist die Gegend um Aurith, zehn Kilometer nördlich von Eisenhüttenstadt. Zwei Tote wurden hier in letzter Zeit entdeckt. Der 12jährige Micha, der öfter zu Besuch ist, redet über Leichen in der Oder wie Angler über Fische. „Die kommen den Fluß runter, und wo die Oder einen Knick macht, treibt sie die Strömung in die Bucht, wo es ruhig ist.“

Manchmal würden auch Fässer gefunden mit Kleidung, Ausweisen, Schmuck und Andenken drin. Einige dieser Fässer hätten von innen verschließbare Decken. Asylbewerber würden so versuchen, die Oder zu überqueren. „Heute morgen“, erzählt Micha weiter, „haben mein Vater und ich gedacht, daß schon wieder ein Toter im Wasser ist. Aber das war nur ein Stock.“

Der Wirt in der Kneipe „Zur alten Fähre“ hingegen behauptet, daß in der Bucht noch keine Leichen angeschwemmt worden seien. Ende Mai hat er selbst eine gesehen, und die lag ein paar hundert Meter weiter südlich. „Die war so dick wie ein Tisch. Da ist mir ganz anders geworden.“ Er schüttelt sich. Dem Wirt und seinen vier Gästen ist wohlbekannt, daß die Beerdigungen für die Ertrunkenen von den Gemeinden bezahlt werden müssen. „Da hilft nur mit dem Stock wieder rein“, sagt einer am Tisch. Er kommt aus Brieskow- Finkenherd. Die Gemeinde hat erst kürzlich so ein Begräbnis bezahlt. Als bei der letzten Gemeindevertretersitzung bekanntgeworden sei, wieviel so eine Beerdigung koste, habe man gesagt: „Das passiert uns nicht wieder.“

In der Nachbarschaft macht sich eine Anglergesellschaft zu einem Ausflug bereit. Auf dem Dach des Autos ist ein graufarbenes, mehrfach geflicktes Schlauchboot befestigt. „Das ist eins von denen, die wir hier gefunden haben“, sagt einer der Männer. Einige der Boote haben sie auf dem Polenmarkt in Frankfurt verkauft. „Die kleinen für 80 Mark, die größeren für 120.“

Überhaupt finde man in den Aurither Wiesen allerhand, was man gebrauchen könne, tönt der Wortführer. Auf seinem Dachboden liege ein 100 Meter langes Tau. Das habe er weiter nördlich gefunden, säuberlich aufgerollt. „Das wurde wohl für die Flußüberquerung gebraucht“, vermutet er schmunzelnd. Ein Bekannter habe schon mal eine Tasche voll mit Familiensilber gefunden und Photos drin. „Wenn Hinkebein auf der anderen Seite der Oder auftaucht, dann gehe ich am nächsten Morgen gucken, was hier wieder rumliegt“, sagt der Angler. Hinkebein sei dunkelhäutig, ziehe ein Bein nach und sei ein Schleuser.

„Das Risiko bei der Flußüberquerung ist allein eine Geldfrage“, sagt ein Dolmetscher in Eisenhüttenstadt, der sich seit Jahren der Flüchtlinge annimmt. Mit Geld könne man einen Paß kaufen, werde im Kofferraum oder mit dem Schlauchboot über die Grenze gebracht. „Nur die armen Teufel müssen selber sehen, wie sie über die Flüsse kommen.“ Die Neiße sei sicherer, da sie gerade im Sommer an manchen Stellen nur hüfthoch sei. Aber auch an der Oder gebe es Furten, die recht gefahrlos überquert werden könnten. Besonders zwischen Frankfurt/ Oder und Lebus. Dennoch sei jede noch so einfach erscheinende Flußüberquerung lebensgefährlich. „Strömung und Strudel sind unberechenbar.“ Die Zahl der von BGS und Wasserschutzpolizei offiziell angegebenen Toten hält der aus Westfalen nach Eisenhüttenstadt gekommene Dolmetscher für untertrieben. Zum einen werde viel vertuscht, zum anderen werde längst nicht jede Leiche gefunden. Im vergangenen Jahr habe der BGS erst nach Recherchen der Antirassistischen Initiative in Berlin eingeräumt, daß sechs tote Tamilen am Auffanggitter eines Wasserkraftwerks nahe des Grenzübergangs Forst gefunden worden waren. Das Interesse an den Leichen der Flüchtlinge sei eben gering. Er habe aber noch nicht gehört, daß die Ertrunkenen von Leuten aus der Gegend in die Oder zurückgestoßen würden. „Ich weiß aber, daß die Schleuser das machen.“ Flüchtlinge hätten ihm immer wieder berichtet, daß Verletzte oder Entkräftete auf diese Weise mundtot gemacht würden, damit sie die deutschen Grenzschützer nicht auf sich und den Ort der Überquerung aufmerksam machten. Der BGS-Beamte, Steffan Lauer, der an der Grünen Grenze im Bereich Frankfurt/Oder Dienst tut, hält das für möglich. „Die gehen so skrupellos vor, daß ich denen das auch noch zutraue.“ Die vom BGS aufgegriffenen Flüchtlinge – im vergangenen Jahr an Oder und Neiße rund 10.000 – würden von den Schleusern derart eingeschüchtert, daß sie kein Sterbenswörtchen über ihren Weg nach Deutschland verrieten. Aber auch der BGS bringt die Flüchtlinge in Gefahr. Aus Berichten der Asylbewerber weiß der Dolmetscher in Eisenhüttenstadt, daß auch BGS-Beamte Flüchtlinge dazu treiben können, wieder ins Wasser zu springen, wenn sie nach einer gelungenen Flußüberquerung hinter den völlig erschöpften Menschen herjagen. Steffan Lauer bestätigt das indirekt. „Wir laufen hinterher“, sagt er. „In der Regel geben unsere Leute nicht auf. Das gibt's bei uns nicht.“

Erst letzte Woche habe er selbst einen Mann aus dem Wasser gezogen, der auf der Flucht vor ihm zurück in die Oder gesprungen sei. „Natürlich ist das gefährlich“, sagt der Mann vom Bundesgrenzschutz. Doch er meint nicht die Flüchtlinge: „Da gehe ich ein ganz schönes Risiko ein.“