Vorschlag

■ Aus dem Schlamm: Chico Science e Nacao Zumbi im Tempodrom

Es muß für einen überzeugten Weltmusikfan schon befremdlich sein, wenn sich vor seinen Augen das Himmelreich der O-Töne ferner Kulturen in HipHop auflöst. Die einen haben Tradition, die anderen hauen bloß auf Trommeln. Dementsprechend war es wohl wirklich ein Wagnis, mit Chico Science e Nacao Zumbi eine Band aus dem brasilianischen Recife heranzuholen, die sich für Comics, interaktives Fernsehen, Antipsychiatrie und jede Art von Drogen interessiert. Und für Heavy Metal.

Zum ersten Mal also umsonst und draußen im Trockeneisnebel. Tatsächlich bleibt ein Großteil des Publikums vor der Kurmuschel recht unsicher, wo es nun mit Kopf und Füßen hinsoll. Mit einigem Schrecken muß es feststellen, daß hier der Worldbeat unter einer Decke aus Rockriffs begraben wird. Der Widerspruch zwischen Authentizität und Hipness ist der Band an den Hutkrempen abzulesen: tropischer Bast, Baseballmützen und Stüssy-Hütchen. Chico Science ist eine Mischung aus Copacabana-Paparazzi, Straßenkater und Londoner Jazzpoet, der sich mit John Coltrane so auskennt wie mit MTV und Galliano. Während der erste Song noch sägt und rumpelt und keiner so genau weiß, wes Geistes Kind das fröhliche Chaos auf der Bühne eigentlich ist, redet der kleine Sänger davon, daß er sich einigermaßen „high in the Berlin sky“ fühlt, murmelt etwas von „Tanzen“, und skandiert dann „Viva Zapata“ mit geballter Faust.

Selbst die Grundelemente brasilianischer Volksmusik sind in derlei Poppropaganda nicht mehr auszumachen. Für echten Rap ist sie ebenfalls viel zu frei schwingend und labyrinthisch in den Strukturen angelegt: Nach 20 Minuten zerrt sich ein Gitarrensolo zu trockener Perkussionsbegleitung dahin, ein Instrumental, mit dem auch U2 zum Rock in Rio hätten einmarschieren können. Nebenbei sind Ähnlichkeiten mit dem französischen Hardcore- Reggae der Babylon Fighters auszumachen oder mit Gun Club, Can und seltsamen Psychedelic Bands der späten Sechziger.

Während der kleine Brazil-Hendrix sein Instrument an Effektgeräten durcharbeitet und sich das Geschehen noch mehr verkunstnebelt, stelzt plötzlich eine in rotsilberne Lamettafransen gekleidete Voodoo-Figur auf die Bühne. Spätestens jetzt wird den meisten klar, daß sich Chico Science nebst all dem elektrischen Krach zur eigenen Geschichte eher wie eine Punk-Version von Kid Creole verhält. Der sogenannte Mangue-Beat kommt aus dem „Schlamm der Vorstädte“ und will auch gar nicht woanders hin, zum Schluß zählt der junge Mann noch Kraftwerk und die Neubauten auf, die ihm wohl näher sind als die Sambapuschen seiner Väter. Übrigens ist die erfolgreichste Band Brasiliens Sepultura, eine Speed-Metal-Combo. Und auch das Tempodrom ist nach der Pause bis an die Bierstände mit Langhaarigen und nächtlichen Herumtreibern angefüllt. Ungewöhnlich. Harald Fricke

Chico Science e Nacao Zumbi, bis Sa. tägl. 21.30 Uhr, So. 16 Uhr, Tempodrom, In den Zelten, Tiergarten