Verklärte Kapitale

■ Biberkopf an jeder Ecke: Auf ihrer Berlin-Seite geht die "Süddeutsche Zeitung" flanieren in "unserer großen Stadt"

Im Berlin der Süddeutschen Zeitung werden Eier auf dem Markt gekauft, treffen sich Flaneure Unter den Linden, trinken „Intellektuelle und Boxer, Kriminelle und Schauspieler friedlich ihr Bier zusammen“, auch wenn sie dann doch nur Drogisten sind.

Seit vier Monaten leistet sich die Münchner SZ wöchentlich eine Berlin-Seite. Mit Geschichten aus „unserer großen Stadt“ soll Berlins Weg vom Inseldasein zum Regierungssitz begleitet werden. Zielgruppe sind nicht so sehr die knapp zehntausend Berliner Leser, sondern regelmäßige Berlin-Besucher, Geschäftsleute, Beamte mit zukünftigem Berliner Schreibtisch und alle, die wohlwollend oder kritisch Berlins Versuche verfolgen, Metropole zu werden. Neben Service und Debatten liefert die Berlin-Seite ihnen vor allem jede Menge Stoff für romantische Projektionen.

Denn die harten Berliner Themen werden in kürzlich erweitertem Umfang nach wie vor in den Ressorts abgehandelt. Berlin heute, so dachte man sich bei der Süddeutschen ganz zu Recht, das ist mehr als Architekturwettbewerbe, Länderehe und Tunnelgangster. Und schaffte Platz für Kurioses und „Typisches“ aus dem Alltag. Berlin ist so fremd, so undurchsichtig, so wenig westdeutsch, daß man, so die Überlegung, mit dem Hauptstadt-Fernkurs bei Null beginnen muß.

Die pure Existenz der Stadt ist da schon Nachricht genug. Da wird die Bärenpflegerin aus Friedrichsfelde porträtiert, der abgestürzte Kneipier aus dem Wedding oder ein Tanzlehrer aus der Friedrichstraße. U-Bahn-Fahren und Autofahren, Spazierengehen und „Bummeln“, Zeitunglesen und Essen in Berlin sind der SZ lange Spalten wert. Wogegen nichts einzuwenden ist.

Aber wenn schon Alltag, dann sollte es auch der echte sein. Vielleicht würde die Gewöhnlichkeit hiesigen Lebens den Leser enttäuschen, der in seinem Münchner Vorort vom Großstadtdschungel träumt. Vielleicht würde ihn die Praxis des Um-die-Ecke-Genießens überfordern, das im häßlichen, armen und mürrischen Berlin nötig und reizvoll, in Bayern aber unbekannt ist.

Jedenfalls überzieht die SZ die Nicht-mehr-und-noch-nicht-Metropole freundlich mit dem Lack der Exotik, schminkt sie dezent zurecht und wildert im Archiv ihrer Stereotypen.

Gern beschwört die SZ sensationellere Zeiten herauf. Unter einem Foto mit pittoresken Flohmarkthändlern steht dann etwa, als liege die Währungsunion (oder gar die Währungsreform) erst ein paar Monate zurück: „Gespräche und Geld, Menschen und Waren, Arbeit und Muße treffen sich zwanglos auf den Straßen Berlins. [...] Als Mittler fungiert die bewährte und begehrte Einheit D-Mark.“

Und Rüdiger Schaper spielt noch einmal die Orientierungslosigkeit des Wessis in der anderen Stadthälfte nach: Pankow, „da kennen wir uns noch gar nicht aus“, der Osten ist soo weit weg. Dieter Schröders Beitrag „Berlin ist nicht Bonn“, Auftakt der Serie „Berliner Republik“, erscheint wie aus Textbausteinen der 91er Hauptstadtdebatte zusammengesetzt.

Wenn die Vereinigungsthemen zu spröde und abgegriffen erscheinen, geht man noch weiter zurück. Manchmal nur bis zum Häuserkampf und zur Mai-Randale der Achtziger, die der enttäuschte Autor in Kreuz- und Prenzlauer Berg heute vergeblich sucht.

Öfter aber in die zwanziger Jahre, mit deren reichem Schatz glanzvoller Klischees so manche Geschichte verklärt wird. An jeder Ecke, so scheint es, steht ein Franz Biberkopf herum und verkauft Strumpfbänder. Bohemiens, Flaneure und die Nutten aus der Oranienburger Straße prägen das Stadtbild. Die „Gören“ (das steht da wirklich!) lernen natürlich Boxen.

Vielleicht ist es auch der persönliche Ton, das „Wir“ der Autoren, was Berlin hier zu einem so kurios-exotischen Ort macht. Mal kokettieren sie vor der Nichtberliner Leserschaft mit ihrem aufregenden Leben in der Umbruchstadt, mal durchleuchten sie die Eingeborenen mit wohlwollendem Ethnologenblick, immer ernten sie feinschmeckerhaft delikate Erlebnisse. Die Distanz bleibt.

Sie soll vielleicht auch bleiben: Zu Hause sitzen so viele Preußenhasser, die der SZ nie verziehen, würde sie die bayerische Bodenhaftung verlieren. Mit den angestaubten Berliner Mythen hingegen können sie gut leben.

Der Begriff „Flaneur“ übrigens, so verlautet aus der Redaktion, wurde mittlerweile auf den Index gesetzt. Jörg Häntzschel