■ In den USA wurde das wahre Ausmaß der Zerstörung und Verstrahlung erst ein Jahr nach dem Bombenabwurf bekannt
: Eine Bombe, die Zeit zum Zünden brauchte

Es war der 6. August 1945, nichts hatte darauf hingedeutet, daß sich dieser Kriegstag von den vorhergehenden unterscheiden würde. „Vor 16 Stunden“, las Eben Ayers, Pressesprecher des Weißen Hauses, „hat ein amerikanisches Flugzeug eine Bombe auf Hiroshima, einen wichtigen japanischen Militärstützpunkt, abgeworfen. Die Japaner haben den Krieg aus der Luft über Pearl Harbor begonnen. Dieser Angriff ist um ein Vielfaches vergolten worden. Und dies ist noch nicht das Ende. Mit dieser Bombe haben wir ein neues und revolutionäres Maß an Zerstörung entwickelt, um die Stärke unserer Streitkräfte zu ergänzen. Weitere, noch schlagkräftigere Bomben werden entwickelt. Dies ist ein atomare Bombe ... Die Gewalt, aus der die Sonne ihre Kraft bezieht, ist gegen jene freigesetzt worden, die den Krieg im Fernen Osten begonnen haben.“

Der Text wurde im Rundfunk verlesen und in Zeitungen zu triumphierenden Schlagzeilen verkürzt: „Atombombe, die beste der Welt, trifft Japse.“ Nur wenige Journalisten hegten Zweifel an der Version des Weißen Hauses – es gab keine Bilder von der Zerstörung. Am nächsten Tag lieferte das Verteidigungsministerium 14 weitere Presseerklärungen, in denen der Eintritt ins Atomzeitalter gefeiert, die Ästethik der Explosion beschrieben und das Staatsgeheimnis „Manhattan Project“ gelüftet wurde. Militärs im Pazifik war es untersagt, sich zu Hiroshima zu äußern, den Wissenschaftlern des „Manhattan Project“, die nach der Zerstörung der Stadt zunehmend von Schuldgefühlen geplagt wurden, hatte man einen Maulkorb verpaßt. Was immer an Meldungen über Tote, Verletzte und radioaktive Strahlungen aus Japan über den Pazifik drang, erklärte die US-Regierung zu Propaganda.

Zu niemandes Überraschung meldeten Umfrageinstitute Mitte August 1945, daß eine überwältigende Mehrheit der Amerikaner den Einsatz der Atombomben befürwortete. Die Öffentlichkeit wie auch die US-Soldaten im Pazifik waren zutiefst davon überzeugt, daß nur durch den Abwurf der „besten Bombe der Welt“ eine Invasion Japans überflüssig geworden war und Hunderttausenden von Amerikanern Tod oder Verwundung erspart worden ist.

Doch neben aller Erleichterung über das bevorstehende Ende des Krieges spielten auch Rachsucht und Rassismus eine Rolle. Den Angriff auf Pearl Harbor „um ein Vielfaches zu vergelten“, war eine bereitwillig akzeptierte Legitimation für den Einsatz einer Waffe, deren apokalyptische Zerstörungskraft immer wieder mit einer Mischung aus Schauder und Faszination beschrieben wurde. Der Schock von Pearl Harbor, gepaart mit Berichten über Greueltaten japanischer Soldaten gegen Zivilisten und Kriegsgefangene und einem kräftig geschürten Rassismus gegen die „gelbe Gefahr“ machten die Japaner in den USA weitaus verhaßter als die Deutschen. Zusammengehalten wurde diese psychologische Mixtur von einem „unwiderruflichen Glauben an amerikanische Tugenden“, schreiben die beiden US-Autoren Robert Jay Lifton und Greg Mitchell in ihrem gerade erschienenen Buch „Hiroshima in America – Fifty Years of Denial“. „Unsere Ziele in diesem Krieg galten als rein – soll heißen: Wir durften zur Auslöschung des Feindes auch inhumane Mittel einsetzen.“

An eben diesen Glauben appellierte auch US-Präsident Truman, als er sich am 9. August 1945 an die Amerikaner wandte. Die USA, sagte Truman, seien aus dem Krieg als mächtigste Nation hervorgegangen, allerdings mit der „furchtbaren Verantwortung beladen, Hüter der Bombe zu sein“. Und: „Wir danken Gott, daß wir, und nicht unsere Feinde, die Bombe besitzen. Und wir beten, daß er uns leiten möge, sie in seinem Sinne und für seine Ziele zu nutzen.“ Am selben Tag ging eine zweite Bombe auf Nagasaki nieder.

Erst ein Jahr später, im August 1946, erschütterte ein Augenzeugenbericht die US-Öffentlichkeit. Der Journalist John Hersey hatte im Auftrag des Magazins The New Yorker drei Wochen in Hiroshima recherchiert. Auf 68 Seiten schilderte er, was die Bombe angerichtet hatte, nicht nur durch ihre Explosionskraft, sondern auch durch die radioaktive Verstrahlung. Zum ersten Mal bekamen die Opfer Namen. Herseys Reportage wurde mehrfach im Radio vorgelesen. Zuhörer und Leser zeigten sich entsetzt, Wissenschaftler des „Manhattan Project“ gestanden öffentlich ihre Beschämung über die Hurra-Stimmung, mit der sie ein Jahr zuvor die Nachricht von der Explosion gefeiert hatten.

Im Weißen Haus reagierte man sofort: Henry Stimson, zur Zeit des Atombombeneinsatzes Kriegsminister, präsentierte eine „Gegenversion“. Er erklärte, Japan habe vor Hiroshima und Nagasaki nie überzeugend seine Bereitschaft zu Kapitulationsverhandlungen signalisiert. Und die Entscheidung für den Einsatz der Atombombe sei die „am wenigsten fürchterliche Option“ zur Beendigung des Krieges gewesen. Der Artikel erschien im Januar 1947 in der Zeitschrift Harper's und wurde, so Lifton und Mitchell, „zum grundlegenden Text für Journalisten und Historiker über die nächsten Jahrzehnte“. Die Debatte um Hiroshima und Nagasaki schien damit beendet. Andrea Böhm, Washington