Allein in unermeßlichen Weiten

Weltmeisterin Astrid Kumbernuss stößt in einem übel beleumundeten Branchenzweig in ganz neue alte Dimensionen vor  ■ Aus Göteborg Peter Unfried

Drei Kurven braucht es. Dreimal weiß auf grünem Untergrund. Eine markiert die 18, eine die 19, die dritte Kurve die 20 Meter. „Es war gut“, sagte Astrid Kumbernuss (25), „daß nur eine 20 m- Marke gezogen war.“ Und nicht weitere. Diese „mental wunderbare“ Maßnahme nämlich zeigte der Weltjahresbesten: „Da muß ich hin. Da muß ich drüberstoßen.“ Ganz einfach: Neben Kumbernuss (20,97 m) hatten vor der WM nur die Magdeburger Teamkollegin Kathrin Neimke (20.53 m) und die Russin Kortschanyenko (20,06 m) die Grenze überschritten. Womit Kumbernuss bereits nach dem ersten Endkampf-Stoß entspannen durfte: 20,52 m, das hatte die Qualifikation am Morgen gezeigt, würde keine überbieten.

Auch Zhihong Huang (30) nicht, die Doppelweltmeisterin aus China, die ihre bescheidene Saisonbestleistung (19,29 m) zwar deutlich steigern konnte (20,04 m), doch als Silbermedaillengewinnerin ihre Kugel auch vor jener Marke landen sah, die Kumbernuss nur mehr zur groben Orientierung genommen hatte, um schließlich persönliche und Weltjahresbestleistung auf 21,22 m zu steigern.

Was gewissermaßen nicht nur für sie einen Vorstoß in völlig neue Dimensionen bedeutet. Das wird auf den ersten Blick nicht so recht klar, weil es zu viele Zahlen sind, die einem im Kopf herumschwirren. Etwa die Bestleistungen der Konkurrentinnen Fedyushina (21,08 m), Mitkova (20,91 m), Pagel (21,18 m), die von Huang (21,52 m) oder gar der Kollegin Sui Xinmei (21,66 m). Letztere war zwei Jahre aus dem Kugelstoßkreis verbannt, andere nicht.

Aber: Die Zeiten haben sich bekanntlich geändert, die Weiten deshalb auch, und Astrid Kumbernuss bewegt sich gegen den Strom dieser Zeit und stößt immer weiter. Zuletzt kurz vor der WM in Lindau 20,97 m, nun gar über die 21 m- Marke. Aber bitte: Die Athletin war diesmal gar nicht verkrampft, auch nicht von dem Begehr des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), gefälligst voranzugehen, um das ganze Team auf Erfolg zu fixieren. Freitag war sie erst eingejettet, nicht aus einem Trainingslager, sondern von zu Hause. Samstag abend war alles vorbei, fühlte sie sich „ganz schön grau“. „Man glaubt nicht“, sagte sie, „wie anstrengend sechs Stöße sein können.“

Und wieviel Arbeit dahintersteckt: in Neubrandenburg, mit dem Trainer und Lebensgefährten Dieter Kollark (50), nach all den Verletzungen, der daraus resultierenden vorübergehenden Umstellung auf Drehstoßtechnik, den verpaßten Olympischen Spielen, der verkorksten WM in Stuttgart (Platz 6), dem Outen Kollarks als IM durch die Kollegin Krabbe rechtzeitig vor der EM 94, so daß sie dort, obschon klar favorisiert, nur Silber kriegte. Ihre Vorteile (Größe, Athletik, Technik) setzte sie dieses Mal über die Geschwindigkeit, die sie der 4 kg-Kugel mit auf den Weg zu geben vermag, in Weite um.

Hinterher wirkte sie richtig entspannt, giggelte mit der lustigen Kollegin Vorgängerin Huang international. „I had good training. And.. Scheiße“, sprach sie, als sie gezwungen werden sollte, Englisch zu reden. Nun, Sponsor Nike („große Ehre“) wird eh nicht dran denken, seinen Turnschuhverkauf mit ihrem speziellen Einsatz anzukurbeln. Nun ist die Frau 1,86 m groß, geschätzte 90 kg schwer, und der ZDF-Reporter Leissl etwa bescheinigte ihr im Angesicht der Konkurrenz, sie wirke „regelrecht fraulich“, was nichts über sie sagen mag, allenfalls etwas über die öffentliche Rezeption von Kugelstoßerinnen. Die beim Äußeren nicht endet. „Es ist immer so“, sagt Kumbernuss gar nicht beleidigt: „Kugelstoßen, und dann kommt immer, Komma, Doping.“ Insbesondere, wenn frau aus Neubrandenburg kommt.

Aber: Zum einen hat Kumbernuss zwar einen Juniorenweltrekord von 1989 stehen (20,54 m), doch im Gegensatz zur Kollegin Neimke, Vizeweltmeisterin 1987 und diesmal 4., kam ihre große Leistungsteigerung erst heuer. Und da hat sie auch vier, fünf Wettkampf-, acht Trainingskontrollen und eine unangemeldete IAAF-Kontrolle passiert. Vergleichen mit Katrin Krabbe mag sich die Weltmeisterin demnach nur insofern, als sie ebenfalls in Neubrandenburg seit zweieinhalb Jahren ein Sportgeschäft führt. Das Geschäft läuft so, daß „man erst mal viel reinstecken muß“ und dann „sehen, daß wieder was rauskommt.“

Dies galt für ihr Hauptgewerbe bisher auch. Immerhin: Statt wie bisher geleast, kann Kumbernuss nun im eigenen WM-Daimler herumfahren. Und weil Rudi Thiel ihr beim ISTAF eigens einen Wettbewerb eingerichtet hat, kann Manager Jos Hermens dort und auch zuvor in Köln ein etwas weniger mageres Startgeld als üblich aushandeln. Und aller Wahrscheinlichkeit nach wird sogar noch ein veritabler Gesamtwertungsbrocken im Grand-Prix dazukommen.

Die Grenzen allerdings werden früh genug erreicht sein. Es ist der Branchenzweig, natürlich. Vielleicht auch der Jubel dieser gar nicht unsympathischen Siegerin, der nicht baumannesk ansteckend, sondern eher hermetisch daherkommt. Es ist aber auch jenes Fähnchen, das weit jenseits der weißen Weitenkurven im Stadiongras steckt und die 22,63 m der Russin Lissowskaja von 1987 markiert. „Es gibt auch Wettkämpfe“, sagt Astrid Kumbernuss und verzieht das Gesicht, „wo eine 22m- Marke gezogen wird.“ Das gilt insbesondere für die großen Sportfeste, die, Lernprozeß hin oder her, Leistung mit Rekorden definieren. Da steht dann die Weltmeisterin vor diesen Marken und ... „fällt fast ab.“ Weil ihr auch noch der Ruhm gestohlen wird.

Wie ein Gespenst, ein Geist, ein Untoter kündete das Weltrekord- Fähnchen auch im Ullevi-Stadion von unermeßlichen Weiten aus einer fernen Zeit. „Das“, sagt sie, „ist eine Weite, wo wir nie hinstoßen werden. Damit identifizieren wir uns nicht.“ Die möglicherweise unermeßliche Dimension der Leistung von Astrid Kumbernuss besteht darin, daß ihre Kugel als einzige weltweit einer vierten Kurve, der 21 m-Meßmarke bedarf.