"Blavatzyks Kinder" - Teil 19 (Krimi)

Teil 19

Erstaunlich, dachte Miriam fünfzehn Minuten später, wie schnell eine Wohnung einigermaßen aufgeräumt aussehen kann. Sonst brauche ich Wochen für eine solche Aktion. Robert klingelte kurz nach neun. Miriam drückte auf den Summer und hörte ihn die Treppe heraufkommen. Er keuchte nicht wie die meisten Gäste, als er im vierten Stock ankam, sondern stand lächelnd mit einer Art Seesack über der Schulter vor ihr.

„Hallo.“

„Hallo.“

„Störe ich?“

„Nein. Komm rein. Durst? Um zehn haben wir einen Termin.“

Sie ließ ihn in die Wohnung.

Termin? Das fängt ja gut an, dachte er. Er war die ganze Strecke durchgefahren, und seine Knochen taten weh.

„Hunger?“ rief sie aus der Küche.

„Großen“, sagte er.

„Du kannst später dort schlafen.“ Miriam deutete auf das Sofa im Wohnzimmer. Sie stellte Getränke, Brot, Käse und Tomaten auf den Tisch.

„Wieso gelangweilt?“ fragte sie.

„Niemand, mit dem ich streiten konnte. Was meinst du mit ,wir haben einen Termin‘?“

* * *

An diesem Abend füllte sich der Parkplatz vor dem Schloß schon lange vor der Veranstaltung mit mehreren Dutzend Pkws. Ein Bus hatte zusätzlich Gäste aus der nahen Kleinstadt angekarrt. Die Gäste mußten durch den Garten auf das Gebäude zugehen, die Treppen emporsteigen und im Foyer ihre Mäntel und Jacken abgeben. Sie näherten sich plaudernd dem Festsaal, an dessen Eingang sie ihre Eintrittskarten vorzeigten. Die Decken waren mit Stuck verziert und mit barocken Frühlingsszenen bemalt, die Wände bis in zwei Meter Höhe mit Eichenholz getäfelt.

Zwischen den langen, mit weißen Tüchern gedeckten Tischen eilten Kellnerinnen mit Bierkrügen hin und her. Im hinteren Teil des Saals herrschte Unruhe, weil die Stühle im Saal nicht ausreichten. Die besondere Rednerin, die erwartet wurde, hatte viele Gäste angelockt. Ein paar Männer trugen einige Tische hinaus und stellten Stühle an ihre Stelle. In der linken Hälfte des Raums saßen mehrere Dutzend junge Männer mit kurzen Haaren, Stiefeln und sauberen, gestärkten, olivfarbenen Uniformen. Überall hatten sich Grüppchen von alten Männern und Frauen gebildet und unterhielten sich angeregt.

Auf der rechten Seite zogen die Lebenshof-Frauen die neugierigen Blicke der jungen Uniformierten auf sich. Die Frauen waren jung, ungeschminkt und wirkten in ihrer Körperhaltung und in der Art, wie sie sich gekleidet und frisiert hatten, konservativ und bieder. Eine ältere Frau mit mürrischem Gesicht schien ihre Vorgesetzte oder Erzieherin zu sein. Die Männer begafften auch Frauen ganz anderen Typs, die geschminkt und bunt gekleidet wie schrille Flecken von den Uniformen und den Schwesterntrachten abstachen. Eine von ihnen, sehr jung und mit einer lila Punkfrisur, sah sich frech um.

Der Mann, der vor zwei Stunden die Rednerin ins Haus begleitet hatte, trat ein. Gottfried Schulte schritt in aufrechter Haltung zur Bühne. Die Gespräche verstummten. Neben ihm ging die Rednerin. Sie war groß, breithüftig, und trug helle Schuhe mit niedrigen Absätzen und ein beigefarbenes Kostüm aus teurem Tuch. Ihre cremefarbene Bluse schloß mit einem Spitzenkragen eng um ihren Hals. Ihr blondes Haar mit den grauen Strähnen hatte sie zu einem eleganten Knoten geschlungen. Beifall brandete auf. Gertrud Eibner nickte lächelnd nach beiden Seiten und betrat die Bühne seitlich über drei Stufen. Sie ging langsam zum Tisch. Schulte schob ihr den gepolsterten Stuhl zurecht, sie hängte ihre Handtasche an die Stuhllehne und ordnete ihre Vortragspapiere. Er trat hinter das Rednerpult aus polierter Eiche und räusperte sich.

Der Geschäftsführer des Lebenshofs begrüßte die Anwesenden, dankte den jungen Männern mit den militärischen Stiefeln und den kahlrasierten Köpfen für Tage voll „aufopfernder, harter Arbeit für unsere gemeinsame Sache“, ohne zu verraten, was diese harte aufopfernde Arbeit im einzelnen beinhaltete. Schulte zeigte sich voll Freude über die Ehre, die Gastrednerin Gertrud Eibner begrüßen zu dürfen, die bei der Erwähnung ihres Namens leicht mit dem Kopf nickte, während sie sich aufmerksam die Anwesenden ansah. Er nannte sie einen hochgeschätzten Gast, eine geistige Mentorin des Lebenshofes, die von einer langen Reise zurückgekommen sei. Er betonte, wie ungeheuer gespannt man darauf sei, was sie heute zu sagen hatte.

Die Rednerin nickte und sammelte ihr Manuskript zusammen.

Fortsetzung folgt