Die Stadt der vielen Falschheiten

Wertewandel an der Moldau: Prag mausert sich zur Marktwirtschaftszentrale zwischen Ost und West. Doch das ethnische Klima hält mit den rasanten Veränderungen nicht Schritt  ■ Von Tomas Niederberghaus

Anglizismen des Kommerzes prangen an den altehrwürdigen Fassaden. Keine Spur mehr von Samtener Revolution. Die Ideologien sind perdu. Es noggert und camelt in den winkeligen Gassen. Kapitalismus pur. In einer Sonderbeilage der FAZ tauchen schon gar keine Menschen mehr auf. Die Moldau-Metropole, heißt es, sei ein „Finanzplatz“, der „sein Versprechen gehalten hat“. Verpackt werden die wirtschaftswunderlichen Fakten – wohl um dem Ganzen ein vermeintlich intellektuelles Niveau zu verpassen – mit dem an Kafka angelehnten Titel: „Der Tiger hat Krallen.“

Die Stadt: auf Hochglanz poliert, renoviert, fast glattsaniert. Ein schöner Schein. In den Boutiquen am Wenzelsplatz kleiden edelste Stoffe die Dekorationspuppen. Es gibt keine Marke, die es nicht gibt. Fiorucci und Versace, Boss und Armani, ob kariert, geblümt oder gestreift. Die weiße Bluse der Brünetten kostet 2.800 Kronen, das sind 170 Mark. Da wundert sich die einfach gekleidete Pragerin beim Blick ins Schaufenster. Ihr Monatsgehalt: 420 Mark. Sie geht weiter. Wenige Minuten vorher hat sie Kartoffeln gekauft. Tschechische Kartoffeln. Das Kilo kostet doppelt soviel wie die gleiche Menge spanischer Orangen. „Oh“, hat die Pragerin gesagt, „die sind aber hübsch teuer.“ Und die Verkäuferin hat ihr geantwortet: „Für Ausländer sind sie billig.“

Ausländer stehen als Synonym für Geld: Amerikaner, Deutsche und Franzosen. Nicht jedoch die Menschen aus Ost- und Südosteuropa. Die zugereisten Ukrainer werden in Prag mit „Šmelina“, dem Schwarzmarkt, in Verbindung gebracht. Und auch die Ex-Jugoslawen sind als Schmuckverkäufer auf den Prager Straßen nicht gerne gesehen.

„Tschechen sind zunächst einmal sehr freundlich“, meint Vukašin, den sie kurz Vuk nennen, „aber nach dem dritten bis vierten Bier teilen sie dir mit, daß du doch besser in deiner Heimat geblieben wärst.“ Vuk studiert Fotografie an der Film- und Fotoakademie Famu. In seiner Freizeit steht der 27jährige Serbe am Mustek, am Fuße des Wenzelsplatzes. Er verkauft Ohr- und Fingerringe. Einen Teil des Geldes schickt Vuk seiner Familie. Die Bosnier rechts von ihm und der Kroate zu seiner Linken machen es genauso. Die drei leben miteinander – in Prag kennt ihr Heimatlied keine bösen Töne.

Bis April 1995 wurden in Prag etwa 25.000 Ausländer registriert. Tendenz: stark steigend. „Inoffiziell“, fügt Miroslava Polova, Chefin des Migrationsbüros im tschechischen Innenministerium, gleich hinzu, „wohnen hier ohnehin schon um ein Vielfaches mehr Fremde.“ Schätzungen zufolge soll es in der Goldenen Stadt allein etwa 20.000 Amerikaner geben. Aber die meisten Menschen ziehen derzeit aus der Ukraine zu: im vergangenen Jahr offiziell etwa 5.000. Dicht gefolgt von den Vietnamesen, die schon vor der Wende zu Tausenden ins Land strömten. „Vietnamesen“, erinnert sich die Schriftstellerin Lenka Reinerova, „hatten sich in unserer Kultur ganz gut assimiliert. Kritische Stimmen kamen erst auf, als einer dieser Fremden eines Tages eine Tschechin umbrachte.“ Da paßte es ganz gut zur Stimmung im Land, daß die Verträge mit Vietnam 1992 abliefen, die Regierung Tausende dieser Ausländer wieder in einen Flieger gen Heimat setzen konnte.

Wie viele Tschechen wohnen Prags Zweite-Klasse-Ausländer in Panelaks, den schäbigen Plattenbauten aus kommunistischer Zeit. „Karnickelställe“, mosern die Einheimischen. Der soziale Sprengstoff ist in dieser grauen Vorstadt am Rande des Stadtbezirkes Pánkrac groß. Doch Aggression und Ablehnung richten sich vornehmlich gegen die ebenfalls hier lebenden Sinti und Roma. Viele von ihnen sind seit jeher Bewohner des Landes. Mitte 1994 verschärfte die Regierung die Rechtslage zur Staatsbürgerschaft: In der ČR wurden etwa 75.000 Roma zu Heimatlosen in der Heimat. Für die TschechInnen waren sie schon immer die Sündenböcke der Nation. In den Prager Trabantenstädten wie Pánkrac beobachten Psychologen bereits rassistische Haltungen der Kinder gegenüber Dunkelhäutigen; in der Schulen spielen sie „Roma und Skins“. Schlechte Vorbilder gibt es genug: Allein in Prag sollen inzwischen 500 bis 800 aktive Skinheads ihr Unwesen treiben. Mehr als zehn „Samizdad“ bringen sie regelmäßig in Umlauf. Ganz offen wird darin Faschismus gegenüber Roma, Vietnamesen und Juden propagiert. Die Regierung kündigte ein schärferes Vorgehen gegen jedwede Form rassistischer Delikte an.

„Wir haben gute Integrationsprogramme für Ausländer“, sagt Lucie Sladkova vom Migrationsbüro, „doch in erster Linie bräuchte die tschechische Bevölkerung ein Integrationsprogramm für sich selbst, für ein besseres Verständnis im Umgang mit Ausländern.“ Schließlich habe Prag vor dem Zweiten Weltkrieg von einer einzigartigen Symbiose tschechischen, jüdischen und deutschen Geistes gelebt. Davon sprechen die PragerInnen. Aber selten klingt in diesen Worten eine Spur Melancholie. Denn die vielfach gelobte Multikultur hatte Macken, immer schon: Zwar hat das Zusammengehörigkeitsgefühl der Werfel-Generation die Barrieren zwischen den Prager Vielvölkern gebrochen, doch der deutsche Einfluß in Prag wurde stets argwöhnisch beäugt.

Dieser Schleier der Skepsis ist undurchsichtig geworden, gleichwohl liegt er über Prag. Natürlich sind die Fassaden der Stadt hübsch, gleichwohl scheinen sie zu Masken erstarrt – denn das Herz schlägt durch das Zusammentreffen von Tschechen und Ausländern nicht stärker. Und die einstige geistige Elite ist einer Truppe hart kalkulierender Ökonomen gewichen. An der Spitze steht Václav Klaus, der tschechische Maggie Thatcher. Kapitalist zu sein ist für den einzelnen vom Stigma zum Traum geworden. Vor allem jüngere Prager zieht es inzwischen in die USA. Vielfalt und Gesetze der Marktwirtschaft sind dort fix gelernt. Zurück in Prag, versuchen sie die schnelle Mark.

Ihre Spuren sind überall. Beispiel: Mala Strana, die Kleinseite. Eine architektonische Komposition aus Renaissance und Barock, stolzen Bürgerhäusern und lauschigen Laubengängen. Hier rumpeln die Straßenbahnen wie anno dazumal. Wie trügerisch. Denn insbesondere dieses Viertel ist Spielball der Immobilienhaie: Mit miesen Machenschaften werden die alten PragerInnen ihrer Wohnungen beraubt, um sie für teures Geld an Ausländer zu vermieten. Während Tschechen für eine geräumige Dreizimmerwohnung noch um die 250 Mark zahlen, läßt sich für die gleiche Suite, nach einer Renovierung, von Ausländern bis zu 2.000 (in Worten: zweitausend) Dollar erzielen.

Einem neuen Mietverhältnis geht ein Akt des Terrors voraus: Altmietern werden Heizung und Wasser abgestellt. Da gibt es nächtliche Drohanrufe, da werden Wohnungen von außen mit Ketten verriegelt, da werden Fenster ausgebaut. Ganz einfach. Natürlich sind die Vermieter verpflichtet, dem Mieter ein Pendant zu verschaffen. Aber wer will schon nach 30 Jahren aus dem idyllischen Zentrum in eine Platte am Rande der Stadt ziehen? Soziale Netze reißen. Die Suizidrate unter den Wohnungswechslern ist hoch. Natürlich erklingen da kritische Töne, nicht zuletzt, wenn in der frisch renovierten Wohnung eine deutsche oder französische Marketing GmbH residiert.

Westler treiben die Mietpreise ins Unermeßliche. Wohnraum wird rar. „Am Altstädter Ring“, sagt ein Prager, „wird es bald nur noch Büroräume geben.“ Zynisch klingt da der Tip von Wirtschaftsminister Dyba an die jungen Menschen Prags: Wer seine Miete nicht zahlen kann, soll auch samstags und sonntags arbeiten. Wertewandel an der Moldau. Die Stadt wird ihrem Namen wieder gerecht: Praha heißt „Schwelle“. Bloß welches Ziel hat der Übergang?

Geradezu offensichtlich sind die Divergenzen zwischen kulturpolitischem Anspruch und alltäglicher Realität. Prag wird profan, Kafka wird überstrapaziert, Kultur wird beliebig. Ein kommerziell orientierter Kulturkonsum hat sich durchgesetzt. Westliche Agenturen organisieren Festivals wie Massenware. Paradox: Prag wird nur als historische Kulisse genutzt, denn die Besucher der gefälligen Darbietungen sind westliche Touristen. Heerscharen fallen in der Moldau-Metropole ein, bis zu 6.000 spazieren in Spitzenzeiten stündlich über die Karlsbrücke.

Tschechisch-ausländische Kulturabende sind rar, sieht man von Bemühungen einzelner Kulturvertretungen einmal ab. Allein schon wegen der Sprache. So verlieren sich höchstens ein paar Amerikaner und Deutsche in die tschechischen Molière-Aufführung eines kleinen Kellertheaters. Auch die Prager Bühnen beschäftigen sich kaum noch mit politischen Fragen, statt dessen vermehrt mit Unterhaltungstheater. Reine Dienstleistungen. Umgekehrt sind die saftigen Eintrittspreise der Kommerzgiganten wie etwa der „Laterna magica“ für TschechInnen schwer erschwinglich. Das führt zu verdrießlichen Tönen. Selbstverständlich nur subkutan. Denn Pragerinnen und Prager mosern hinter vorgehaltener Hand.

Zum Beispiel in den Cafés und Restaurants – neuralgische Punkte der Spannungen: Vor wenigen Wochen wurde per Gesetz die Preisdifferenzierung aufgehoben. Bis dahin durften Wirte von Ausländern den doppelten Preis für die gleiche Leistung verlangen wie von Pragerinnen und Pragern. Anders gesagt: Einheimische zahlen nicht mehr den halben Preis. Größtmögliche Diskussionen entzündeten sich in den Medien. Die entsprechende Stimmung kann man nur mit einer Szene aus dem Café Milena am Altstädter Ring erklären: Zwei TschechInnen sitzen vor einer Tasse Tee. Herein stürmen etwa 20 deutsche Touristen. „Schauen Sie auf die Speisekarte“, schreit der Reiseleiter, „wie versprochen ist es spottbillig. Eine Fleischbrühe nur eine Mark.“ „Heinz, hast du das Portemonnaie dabei“, schreit eine Frau durchs Lokal. Dann wird tüchtig geschlemmt. „West und Ost sind kommunizierende Röhren“, hat Havel einmal geschrieben, „was mit der einen geschieht, wirkt sich auf die andere aus.“ Kommuniziert wurde wenig, ausgelöst einiges.

Wird Prag wieder Drehscheibe zwischen Nord und Süd, zwischen Ost und West? „Urbem conspicio fama quae sidera tanget“ – ich sehe eine Stadt, deren Ruhm an die Sterne reicht, soll einst Libuse, die Gründerin Prags, mit ihrer Gabe der Weissagung beim Blick auf den Standpunkt des heutigen Hradschin gesagt haben. Der Ruhm als Kommerzzentrum mag bald erreicht sein. Von Multikultur ist die Stadt weit entfernt.