■ Tudjmans Vorgehen in der Krajina wirft einige Fragen auf
: Ethnisch reine Republiken?

Nach dem Fall der sogenannten UNO-Schutzzonen Srebrenica und Žepa und dem durch massive militärische Drohungen in letzter Minute erfolgreichen Schutz Goraždes hatte die serbische Eroberung der „Schutzzone“ Bihać gedroht: durch vereinte Angriffe der Karadžić-Serben, der Abdić-Separatisten und der Krajina-Serben. Die strategische Bedeutung der Enklave Bihać für Kroatien ließ den kroatischen Präsidenten Tudjman dem Kriegsgeschehen in Bosnien diesmal nicht länger zusehen. Die serbische Eroberung Bihaćs und die Vereinigung der serbisch besetzten Gebiete in Kroatien und Bosnien zu einem Staat „Westserbien“ hätte Kroatien auf immer zerstückelt.

Die Beurteilung der Rückeroberung der Krajina kann nur durch Differenzierung gelingen: zwischem dem Völkerrecht Kroatiens auf Wiederherstellung seiner Integrität einerseits und der Einhaltung humanitären Rechts sowie der Gewährung von Autonomierechten andererseits. Hier sind jedoch angesichts der massiven Beschießung Knins und des zugelassenen Massenexodus der serbischen Flüchtlinge mehr als Zweifel angebracht.

Auf den ersten Blick ist für Bosnien eine Wende im Krieg auf dem Balkan eingetreten. Eine militärische Lösung hat das Ende der langen Belagerung Bihaćs und das Aushungern seiner Bevölkerung ermöglicht. Auf den zweiten Blick entstehen Fragen. Das bewußte Offenhalten der Straßen nach Westbosnien für die Krajina-Serben, die Erklärung Tudjmans von Samstag, er habe „gewußt“, daß die Krajina-Offensive „keine Konfliktausweitung provozieren“ würde und die „Speisekarten“-Aufteilung Bosniens durch Tudjman lassen Absprachen des kroatischen Präsidenten mit Milošević als sicher erscheinen.

Die in die serbisch besetzten Gebiete Bosniens und Ostslawoniens geflüchteten Krajina-Serben verschieben die Bevölkerungsstrukturen weiter zu „ethnisch reinen“ Gebieten; zudem bilden sie dort eine willkommene Reservearmee. Dies geschieht zum Nachteil derjenigen Kräfte in Bosnien und Kroatien, die ihre multiethnischen Staaten erhalten wollen.

Tudjman, der den bosnischen Präsidenten auch im Ausland wiederholt als „Fundamentalisten“ und „Algerier“ verleumdete und sich wahlverwandtschaftlich zu Milošević hingezogen fühlt, hatte bereits im März 1991 mit dem serbischen Präsidenten die Aufteilung Bosniens beschlossen. Noch im Oktober 1993 wollte er sie in seinem Parteiprogramm festschreiben. Tudjmans Gegner Stipe Mesić glaubt, daß „ethnisch reine“ Republiken das Ziel Tudjmans und Miloševićs sind.

Über die jetzige Wende im Balkan-Krieg kann das geschundene Bosnien aufatmen. Zugleich läßt sie neben Serbien und Montenegro Kroatien als zweite Macht erstarken. Hinter dieser Wende ist das Gespenst einer serbisch-kroatischen Aufteilung Bosniens keineswegs verschwunden. Johannes Vollmer