Sozialtante wollte sie nicht sein

Berliner Gesichter: Die Schriftstellerin Leonie Ossowski wird heute siebzig Jahre alt / Von der Gutsbesitzer-Tochter zur sozialkritischen Autorin  ■ Von Jürgen Berger

„Es war natürlich Wahnsinn, ein Landkind aus der platten niederschlesischen Landschaft, wo das Tulpenbeet der Berg war, an den Bodensee zu schicken! Schon alleine die Landschaft konnte ich nicht ertragen. Ich bin nicht gerade rausgeflogen, aber meine Eltern wurden aufgefordert, mich abzuholen“, sagte sie vor fünf Jahren in einem taz-Interview. Sie meinte Salem, ein Internat am Bodensee, in dem sich die Flachländlerin nicht nur wegen des unerträglichen Alpenblicks deplaziert vorkam. Sie ist schon damals schwer zu fassen. Das Klischee von der aufmüpfigen Jugendlichen, in der die Berufung zur sozialkritischen Schriftstellerin rumort, paßt nicht. Manches deutet darauf hin, daß da eine Unangepaßte heranwächst, einiges spricht aber auch für eine brave Tochter, wie sie sich die Eltern, Gutsbesitzer im niederschlesischen Ober-Röhrshof, nur wünschen können: von Kindesbeinen an auf dem Rücken der Pferde; als Jugendliche der zugegeben etwas extravagante Wunsch, Pferde für die Kavallerie auszubilden; dann der erste Ehemann, standesgemäß der Sohn vom nachbarlichen Gut. Zuvor allerdings war da ihre erste Liebe, ein belgischer Kriegsgefangener. Es wird bekannt, und die 16jährige muß ihre Landwirtschaftslehre abbrechen. Und der Gutsbesitzersohn? Mit 24 trennt sie sich wieder von ihm, schlägt sich Anfang der 50er Jahre mitten im prüden Nachkriegsdeutschland alleine durch und beginnt zu schreiben.

Kleine Geschichten zu Beginn, dann verfaßt sie (ohne zu wissen, „wie so etwas geht“) ihr erstes Drehbuch und geht mit ihm zur Defa, wo es prompt verfilmt wird. Auch das eine der Unwägbarkeiten der Leonie Ossowski. Sie geht in die DDR, will sich „den Kommunismus ansehen“ und wird zum ersten Mal stutzig, als ihr Entwurf zu einem Drehbuch mit der Begründung abgelehnt wird, es käme Kirchenmusik vor. Als Roman wird „Stern ohne Himmel“ 1958 ihr erster großer Publikumserfolg. Im selben Jahr verläßt sie die DDR und zieht in die Arbeiterstadt Mannheim, wo sie mehr als 20 Jahre lebt. Anders als manche, die auf die DDR ihre Hoffnungen setzten und dies heute leugnen, steht sie zu dieser Zeit.

Ein Grund: ihr soziales Engagement war nie Lippenbekenntnis oder rhetorisches Schnitzwerk für Vollversammlungen. Nach Berlin gezogen, leitet sie Anfang der 80er Jahre eine Literaturgruppe in der Vollzugsanstalt Tegel; in den 70er Jahren arbeitet sie mehrere Jahre in einem Obdachlosenasyl und schreibt danach ihren bekanntesten Jugendroman „Die große Flatter“ (1977) über Richy und Schocker, den Kreislauf von Frustration und Gewalt. Er wird verfilmt, sie selbst sagt im Erscheinungsjahr: „Die Bürger in diesem Land sollten sich mit diesem Thema befassen. Denn da wächst eine ,Randgruppe‘ – so haben wir uns ja wohl angewöhnt zu sagen – auf uns zu, die man nicht einfach verdrängen kann.“ Die Westdeutschen verdrängten, einige lasen ihre „Mannheimer Erzählungen“ (1974). Kurze und prägnante Texte wie „Weckels Angst“. Damals hatte sie Angst, zur „Sozialtante der Nation“ abgestempelt zu werden, obwohl die harte Art, in der sie beschreibt, wie der 15jährige Weckel im Knast von Mitgefangenen zu Tode gefoltert wird, sie vor solch einem Etikett eigentlich hätte schützen müssen. Mit einer anderen Etikettierung geht sie heute entspannt um: eine „Unterhaltungstante“ zu sein und mit ihrer deutsch-polnischen Trilogie „Weichselkirschen“ (1975), „Wolfsbeeren“ (1987), „Holunderzeit“ (1991) nicht in höchste literarische Regionen vorgestoßen zu sein.

„Bücher, wie ich sie schreibe, sind natürlich Unterhaltungsliteratur, aber keine Verdummungsliteratur. Es gibt nichts, was ich geschrieben habe, das nicht politisch wäre. Autoren wie ich bringen den Verlagen das Geld, mit dem Bücher gemacht werden können, die nur zwei- oder dreitausend Auflage haben“, bemerkt sie. Eines ihrer jüngsten Bücher habe keine einzige Rezension bekommen, obwohl sie selbst es für ein „literarisches“ Buch hält. Leonie Ossowski meint „Zinnparadies“ (1988), in Berlin geschrieben, wo sie seit 15 Jahren lebt. „Ich habe sieben Kinder, schon deshalb habe ich immer Geld verdienen müssen“, sagte sie an ihrem 65. Geburtstag. Heute wird sie 70.