Ausziehen ist vor allem Vertrauenssache

Sprachschwierigkeiten und Scham machen es kurdischen und türkischen Frauen schwer, beim Arzt über ihre Probleme und Krankheiten zu sprechen. Türkischer Frauenverein kritisiert die einseitige Behandlung mit Medikamenten  ■ Von Zonya Dengi

„Als ich das erste Mal zu einem Frauenarzt kam, fiel es mir sehr schwer, mich auszuziehen. Erst so nach und nach wurde meine Scham geringer“, faßt die Kurdin Hane Tanriverdi ihre Erfahrung mit männlichen Ärzten zusammen. Wie ihr geht es vielen in Berlin lebenden kurdischen und türkischen Frauen aus vorwiegend ländlichen Gebieten: Bei Frauenkrankheiten wird immer eine Ärztin bevorzugt. Wenn sie aber aufgrund von äußeren Umständen auf einen Arzt angewiesen sind, sind die meisten auch bereit, ihre Scheu zu überwinden.

Für Hane, die seit siebzehn Jahren in Berlin lebt, ist das Vertrauen zum Arzt entscheidend; dann wird die Scham im Falle einer Krankheit zweitrangig. Obwohl sie nach wie vor eine Frauenärztin bevorzuge, gehe sie „lieber zu einem Arzt, dem ich vertraue, als zu einer Ärztin, von der ich nicht viel halte“, sagt die Mutter von sieben Töchtern.

Auch Sidika Sarak, die erst vor zwei Jahren nach Deutschland kam, vertritt dieselbe Ansicht. Sie sei so zufrieden mit ihrem Frauenarzt, daß sie ungern wechseln würde – vielleicht nur im Falle eines Umzuges. „Es wird fälschlicherweise angenommen, daß der Islam die Behandlung durch einen männlichen Arzt verbietet“, sagt die 35jährige Hausfrau. Aber die strikte Geschlechtertrennung bezieht sich nur auf den Umgang mit fremden Männern, nicht aber auf den Arzt, der als ein Vertrauter gilt.

„Der Arzt hat einen hohen Stellenwert in der islamischen Gesellschaft“, sagt auch Dr. Hassan Mohamed-Ali. Gerade das ausgeprägte Schamgefühl in der orientalischen Gesellschaft werde von Europäern leider zu oft als ein „Zeichen von Rückständigkeit“ ausgelegt, berichtet der seit vierunddreißig Jahren in Deutschland lebende Internist. „In Europa neigt man leider dazu, alles, was der europäischen Norm nicht entspricht, als minderwertig oder zurückgeblieben zu sehen“, hat der irakisch- kurdische Arzt erfahren.

Orientalischen Frauen hätten oft ein anderes Krankheits-oder Gesundheitsverständnis als die deutschen, erklärt Sermin Doganay vom TIO, dem „Treff und Informationsort“ für Frauen aus der Türkei. Aus ihrer Heimat kennen sie oft nur die volksmedizinische Behandlung, die sich mit ihren „religiös-magischen Praktiken“ von der praktischen Medizin, die sie in Deutschland oder türkischen Großstädten vorfinden, unterscheidet. Die Fremdheit orientalischer Frauen gegenüber der modernen Medizin drücke sich nicht selten in Unsicherheit aus, die durch das Sprachdefizit nur noch verstärkt werde, sagt die Diplompädagogin Doganay.

Bis vor einigen Jahren bevorzugten viele ImmigrantInnen türkischer Staatsangehörigkeit türkischsprechende Ärzte, aber mittlerweile beklagten sich viele über mangelnde Aufmerksamkeit. „Bei einigen türkischen Ärzten ist das Klassenbewußtsein sehr ausgeprägt. Die PatientInnen aus der ersten Immigrantengeneration wechseln deshalb verstärkt zu deutschen Ärzten über“, berichtet Aysin Yesilay vom türkischen Frauenverein in Kreuzberg. Besonders schwer hätten es die kurdischen Patientinnen, die auch der türkischen Sprache nicht mächtig seien, so Diplompsychologin Yesilay.

Um den Verständigungsschwierigkeiten vorzubeugen, haben viele deutsche Ärzte, die einen hohen Prozentsatz an PatientInnen aus der Türkei haben, inzwischen türkischsprechende Arzthelferinnen eingestellt. Aber diese Maßnahme sei keine ideale Lösung, erzählt Aysin Yesilay: „Viele Frauen machen keinen Gebrauch von der dolmetschenden Gehilfin. Sie haben Angst, daß die Arzthelferin tratschen könnte und so intime Geheimnisse zu gemeinsamen Bekannten dringen könnten.“

Lieber versuche frau sich mit Händen und Füßen zu verständigen, als sich in Gegenwart einer weiteren fremden Person zu offenbaren, weiß die Diplompsychologin. Die Frauen haben auch das Bedürfnis, ohne Zwischenpersonen den Kontakt zum Arzt aufzunehmen.

„Es ist tatsächlich schwierig, über die Arzthelferin an die Patientin heranzukommen. Aber für uns ist das die einzige Möglichkeit, die Patientin auch mal ohne Familienangehörige zu sprechen“, sagt dagegen Bernd-Reiner Voss, Gynäkologe in Wedding. Frauen mit familiären Problemen könnten sich natürlich nicht in Gegenwart der Schwiegermutter oder des Ehemannes darüber auslassen. Trotz seiner über zwanzigjährigen Erfahrung mit Patientinnen aus der Türkei falle es ihm schwer, sich in die fremde Kultur hineinzudenken, gibt er zu.

Vor allem die patriarchale Struktur, die der Frau sehr wenig Raum für eigene Entscheidungen läßt, sei für ihn schwer nachvollziehbar. Beispielsweise bestimme häufig der Mann die Verhütungsmethode, während der Wunsch der Frau und die Empfehlung des Arztes unberücksichtigt bleiben. Angesichts dessen seien viele KollegInnen resigniert; ihnen sei jeder Zugriff auf das Innere der Patientin verwehrt. So könne nur eine einseitige Behandlung vorgenommen werden, und zwar durch Medikamente.

Viele erfahrene Sozialarbeiterinnen kritisieren aber, daß Ärzte seltener aus Resignation als aus „Leichtfertigkeit“ Medikamente verschrieben. „Es ist unglaublich, in welchen Mengen Medikamente wie Psychopharmaka mit sehr schädlichen Nebenwirkungen verabreicht werden“, entsetzt sich Aysin Yesilay, die schon unzählige betroffene Frauen beraten hat.

Da die meisten Patientinnen das Lesen und Schreiben weder in türkischer noch deutscher Sprache beherrschten, könnten sie auch die Packungsbeilage, die mittlerweile auch ins Türkische übersetzt ist, nicht lesen. So wissen die Frauen oft nicht, was mit ihnen geschieht. „Manche wissen nicht einmal, daß sie in psychiatrischer Behandlung sind“, betont Diplompsychologin Yesilay.