Ein Johnson macht noch keinen Boom

Hin und wieder kann ein Fehltritt erfolgversprechender sein für eine Karriere als eine Goldmedaille, denn der Leichtathletik fehlen Figuren, die die Fantasie dauerhaft beschäftigen  ■ Aus Göteborg Peter Unfried

Am Wochenende hat man auch Bradley Hunt mal ein Bier trinken sehen. Ganz entspannt stand er am Kühlschrank, die Flasche in der Hand, und strahlte selbst für amerikanische Verhältnisse mächtig. Zu sehen war: Für den Manager war die WM gelaufen. Zum einen präzise wie geplant, was den Klienten Johnson betrifft, den 200- und 400 m-Weltmeister. Zum anderen kamen drei Schritte dazwischen. Jene, die die 100 m-Weltmeisterin Gwen Torrence (30) bei ihrem überlegen gewonnenen 200 m-Finale auf die weiße Linie trat. Doch Hunt wäre nicht Hunt, hätte er nicht in der Disqualifikation, der kurzfristig schlechteren Situation, die Chance auf eine langfristig bessere gesehen. Jedenfalls hat er die auf die Rolle der bitch festgelegte Torrence in einer eigens anberaumten Pressekonferenz dem staunenden Publikum als „role model“ der fairen Sportsfrau, der tapferen Verliererin, der bewundernswerten Mutter präsentiert. Nun sagt man in der Branche, die problematische Torrence sei mental wie „ein altes Auto, an dem es immer etwas zu reparieren gibt“, doch dieses Mal hatte Hunt sie prima gebrieft. So erreichte die Vorstellung einen veritablen Höhepunkt, als sie wie erwartet mit dem Vorwurf Merlene Otteys konfrontiert wurde, sie habe „betrogen“. Torrence (ins Schluchzen geratend): „Ich habe einen kleinen Jungen, dem habe ich stets gepredigt: Du sollst nicht betrügen! Nun muß er hören, seine Mutter habe betrogen. Eltern müssen immer das vorleben, was sie ihren Kindern sagen. Ich weiß nicht, huhu, wie ich ihm das erklären soll.“

Alldieweil Siegerin Ottey selbstredend „die größte Frau in der Geschichte des Sprints“ bleibt, ward so die Botschaft laut und deutlich ausgesandt: Die Mutter von Manley Jr. mit den, im Gegensatz zur Arena, samtweichen Gesichtszügen und dem Lieblingssatz „tief in meinem Herzen“, ist rein wie mindestens Mutter Maria. Die Rezeption übermorgen in Zürich und am Freitag in Köln wird dem klugen Hunt bestätigen, daß es nicht allein darauf ankommt zu gewinnen, sondern darauf, kreative Vermarktung zu leisten. Genau das ist das Problem, das die Leichtathletik auch in den Tagen von Göteborg nicht lösen konnte. Vielleicht, weil es nicht zu lösen ist? Der Sport soll im Vordergrund sein, so heißt es einerseits. Doch auch die Show abgeliefert werden, die jene verlangen, die die Protagonisten kleiden. Oder nur noch einschnüren?

Der Status der Heike Drechsler (31) etwa war Folge ihrer sportlichen Leistung. Eine Frau, die auch internationale Laufkundschaft ins Leichtathletik-Lager hätte ziehen können, war sie auch in ihren besseren Zeiten nicht. Nun hat man Carl Lewis endgültig verloren, Christie demnächst, Joyner-Kersee wohl auch. Mike Powell (8,29 Meter) scheint gegen Pedroso (8,70) chancenlos. Bleiben: Die ständig in immer kürzeren Perioden sich totlaufenden Kenianer? Unterscheiden Kenner kaum. Laufwunder wie der Algerier Morceli, der Äthiopier Gebrselassie, die portugiesischen Langläuferinnen womöglich? Können in ihren Ländern prima Botschafter sein. Aber, wie den international unvermarktbaren Osteuropäern und Kubanern mangelt es jenseits der Laufbahn: zum einen am essentiellen Englisch, zum anderen am dringend benötigten Charisma. Der 100m-Weltmeister Donovan Bailey?

Selbst Sergej Bubka (31) hatte mit seinem fünften WM-Titel nur noch numerisch einen Superlativ zu bieten. Dem Ukrainer sagen „Körper und Geist, wie schwierig alles ist“. Doch nicht nur der zurückhaltende Stabhochspringer ist müde, das Publikum ist es seiner auch. Und entgegen aller Beteuerungen selten fähig, eine Begeisterung zu entwickeln, die nicht zahlenfixiert dem Fetisch Weltrekord huldigte, wie im Falle des Dreispringers Edwards. Der aber ist ein Priestersohn und so ehrlich, daß es heute exotisch wirken mag, morgen aber nur noch zum Gähnen reizen wird.

Wenn nun eine Sportart keine HeldInnen mehr hat, dann wartet man entweder, bis welche geboren werden, oder? Man macht sich einen. „Enjoy your success!“ Das hat Brad Hunt dem introvertierten Michael Johnson immer wieder eingetrichtert. „Wenn du das tust, wird sich das Publikum mit dir freuen.“ Tatsächlich hat man die SchwedInnen höchstens bei Hochspringer Sjöberg so aufgeregt erlebt wie bei Johnsons erstaunlichen Darbietungen. Doch geht diese Faszination über das Stadion hinaus?

Primo Nebiolo, der IIAF-Präsident, zum Beispiel, glaubt an Michael. Anfang September, hat er Hunt ausrichten lassen, wird man sich treffen, um nun doch zu besprechen, wie man ihn durch Änderung der Zeitpläne zum Doppel- Olympiasieger machen kann. „Alles andere“, sagt Manager Hunt, „wäre ein weiteres Beispiel, wie sich die Leichtathletik selbst in den Fuß schießt.“ Bumm! Jetzt, wo alles so gut läuft. In der Stadt, berichtet Michael Johnson, traf er einmal auf einen Jungen, der seiner angesichtig aufgekratzt „Magic, Magic“ ausrief. Boom! Ein Anfang ist gemacht.