Appeasement im Jahre 1995

■ Bosnien wird von den Großmächten zerlegt

Die russische „Friedensinitiative“ und die militärische Lösung in Kroatien haben die USA in Zugzwang gebracht. Sie haben mit einer diplomatischen Eingreifgruppe mit Sicherheitsberater Lake an der Spitze reagiert. Seine Europareise zeigt: Entgegen der bisherigen amerikanischen Lesart, auf dem Balkan seien US-Interessen nicht unmittelbar berührt, gewinnen Einflußgebiete der ehemaligen Blöcke auf dem Balkan immer klarere Konturen. Die Großmächte und ein „starkes Rußland“ sind zurückgekehrt.

Die kroatische Offensive hat die territoriale Integrität des Landes wiederhergestellt. Denkt man aber Einflußsphären nach Art der Großmächte geostrategisch, so können neue Grenzen nur als Arrondierungen zu einem kompakten Territorium, nicht aber als Grenzen multikultureller Staaten gezogen werden. „Störend“ wirkt da als letzte noch die ostbosnische Enklave Goražde, aus Sicht der Karadžić-Serben ein „muslimischer“ Stachel im serbischen Fleisch. Da ist es für Großmächte „realpolitisch“ konsequent, das zuletzt noch mit großem Aufwand geschützte Goražde als Tauschobjekt gegen Gebiete bei Sarajevo anzubieten. Das Interesse an Einfluß und Ruhigstellung hat Vorrang vor dem einst feierlich verkündeten Prinzip, Europa werde gewaltsame Territorialveränderungen niemals hinnehmen.

Der bisherige Plan der Kontaktgruppe war von der bosnischen Regierung sogleich, von den Karadžić-Serben hingegen nie akzeptiert worden. Dieser Plan – das „letzte Wort“ der internationalen Gemeinschaft – wird nun aufgeweicht. Die neue „Flexibilität“ der USA ist nur ein weiterer Schritt auf dem bekannten Weg von „Verhandlungslösungen“: Anpassung der Diplomatie an die militärisch geschaffenen faits accomplis. Daß indes eine territoriale Teilung nicht als solche, sondern als Konföderationslösung der zwei Teile Bosniens mit Kroatien und Serbien unter formeller Wahrung der Grenzen des UNO-Mitglieds Bosnien- Herzegowina gehandelt wird, gehört weiterhin zur diplomatischen Gesichtswahrung. Wie die „ethnisch gesäuberten“ serbisch besetzten Gebiete Bosniens auf dem Boden aussehen, entvölkert von Muslimen und Kroaten – darüber schweigt zynisch die Diplomatie.

„Appeasement“ nennt man das seit 1938. Der Kontaktgruppenplan scheint diesmal jedoch für die bosnische Regierung unannehmbar. Damit rückt auch für Bosnien eine „Klärung“ nach kroatischem Muster endgültig näher: die militärische, da die internationale Gemeinschaft versagt. Johannes Vollmer