Von der Zukunft der Neinsager

Die Einstellung der Deutschen gegenüber den Deserteuren der Wehrmacht ändert sich. Wie wird die Bundeswehr mit ihren Befehlsverweigerern umgehen? Ein Sammelband zieht Zwischenbilanz nach fünfzehnjähriger Debatte  ■ Von Horst Meier

Der „unbekannte“ Deserteur, dem seit Mitte der achtziger Jahre hier und da im Westen – und neuerdings auch im Osten – der Republik Denkmäler gesetzt werden, könnte bald schon Name und Anschrift bekommen. Denn das vereinte Deutschland schickt sich an, „Verantwortung“ in der Welt zu übernehmen.

Die damit verlegen umschriebenen militärischen Ambitionen, sie mögen diskutabel oder abwegig sein, sind ohne Soldaten jedenfalls nicht zu verfolgen. So gibt die Aussicht auf den nächsten Krieg der Geschichte der Deserteure eine aktuelle Dimension: Sie mündet in die heikle Frage nach deren Zukunft. Einst stand die Entdeckung der Deserteure unter den Vorzeichen der westdeutschen Friedensbewegung, heute fällt ihre pazifistische Vereinnahmung schwerer. Das hat die kritische Militärgeschichtsschreibung ernüchtert – und ihren Blick geschärft.

Der Historiker Norbert Haase, der 1987 mit dem Buch „Deutsche Deserteure“ in Erscheinung trat, hat jüngst, gemeinsam mit Gerhard Paul, ein neues Buch zum Thema herausgegeben. In elf Beiträgen wird darin Bilanz gezogen über „die anderen Soldaten“, diejenigen Männer also, die als Wehrkraftzersetzer, Gehorsamsverweigerer oder Fahnenflüchtige im Zweiten Weltkrieg verfolgt wurden. Entstanden ist so etwas wie ein kleines Handbuch, das Einblicke erlaubt in die inzwischen weitverzweigte Forschung. Quellen- und Literaturhinweise erleichtern den Zugang zu Einzelfragen.

Detlef Garbe berichtet in seinem Beitrag über Kriegsdienstverweigerer jener Zeit. Sie waren in der Mehrzahl deutsche Anhänger der „Internationalen Bibelforscher-Vereinigung“, die sich selbst Zeugen Jehovas nennen. Von den 117 Todesurteilen, die das Reichskriegsgericht im ersten Kriegsjahr wegen „Wehrkraftzersetzung“ verhängte, richteten sich 112 gegen Bibelforscher; bis Kriegsende wurden insgesamt 250 von ihnen hingerichtet. Ihre Bereitschaft zur offenen Verweigerung und damit zum Martyrium sieht Garbe begründet in der „ganz außergewöhnlichen Tiefe und Ernsthaftigkeit der getroffenen Gewissensentscheidung“. Bis heute werden sie als Sektierer belächelt, dabei können die Zeugen Jehovas immerhin für sich in Anspruch nehmen, als einzige Gruppe die Kriegsdienstverweigerung offen propagiert und auch überwiegend praktiziert zu haben. Ihre unpolitische Resistenz gegen die Nazi- Wehrpflicht birgt ein kleines skandalöses Geheimnis: Wie kommt es eigentlich, daß die Kriegsdienstverweigerer vor allem aus ihrer Gemeinschaft kamen, viel seltener jedoch aus den beiden großen Kirchen oder der Friedens- oder Arbeiterbewegung?

Die Nazis unterdrückten nicht nur jede praktische Opposition, ihre „Volksgemeinschaft“ duldete auch keine inneren Vorbehalte oder Zweifel. Entsprechend lautete im Militärstrafgesetzbuch der Vorwurf „Zersetzung“. Bernward Dörner begibt sich auf die Spur der Defätisten und Schwarzseher, die wegen Äußerungen wie „Der Krieg ist verloren“ von ihren Kameraden denunziert wurden. Was die „Wehrkraftzersetzer“, die nicht auf dem Schafott endeten, in den Militärgefängnissen und Strafbataillonen erwartete, schildern zwei andere anschauliche Beiträge des Bandes.

Daß Deserteure sich nicht umstandslos als Pazifisten vereinnahmen lassen, belegt das Beispiel der Überläufer. Gerhard Paul erzählt von jener Minderheit entschiedener Antinazis, die auf die Seite der Alliierten oder der Partisanen wechselte. Zur „Frontbewährung“ gepreßte KZ-Häftlinge flohen manchmal gruppenweise aus den Strafbataillonen.

Wer den Deserteuren nachgeht, stößt unweigerlich auf eine Tätigkeit, die zum schändlichsten zählt, was deutsche Juristen verbrachen: die Militärjustiz der Wehrmacht. Im vorliegenden Band untersucht Manfred Messerschmidt, der Pionierarbeit bei der Aufhellung dieses trüben Kapitels leistete, welche historischen und ideologischen Grundlagen die miltärische Disziplin im NS-Staat hatte.

Ein ergänzender Beitrag schildert die Praxis der Wehrmachtsjustiz. Im Milieu Nazideutschlands gingen Tradition und Praxis eine geradezu tollwütige Verbindung ein: Heute gilt als gesichert, daß von NS-Ideologie und „Manneszucht“ verdorbene Militärrichter gegen 23.000 Deserteure die Todesstrafe verhängten und in zwei Drittel aller Fälle auch vollstrecken ließen.

Der Ungehorsam in der Truppe hatte viele Gesichter. In den letzten Kriegswochen gab es eine Reihe örtlicher Militärbefehlshaber, die sich den Durchhaltebefehlen aus dem „Führerbunker“ widersetzten und kapitulierten. Meist bewegte sie eine Mischung aus Heimatverbundenheit und Resten politischer Vernunft. Einerlei, ob man darin einen Opportunismus der letzten Tage oder eine Spielart des Widerstands sehen will: Entscheidend bleibt, daß diese Befehlsverweigerung vielen Menschen das Leben rettete.

Als Alfred Andersch den Bericht seiner Desertion, „Die Kirschen der Freiheit“, veröffentlichte, provozierte er einen wohlkalkulierten Skandal. Man schrieb das Jahr 1952. 1995 fällt ein milderes Licht auf jene, die Hitlers Wehrmacht den Rücken kehrten. Es fehlt nicht viel, und der „ehrenwerte“ Deserteur wird von einer Mehrheit des Bundestages wiedereingebürgert. Entsprechende Anträge von den Grünen und der SPD beschäftigen das Hohe Haus seit Jahren. Bislang hat sich die Union zwar gewunden, die Deserteure zu rehabilitieren. Es ist jedoch ein Meinungswandel im Gange. Die fünfzehnjährige Debatte, die mit den Initiativen für Deserteurdenkmäler in Kassel und Bremen begann, trägt Früchte. Wolfram Wette zeichnet diese Entwicklung in einem abschließenden Beitrag nach. Er hofft, daß nicht nur die Deserteure der Nationalen Volksarmee und die des Krieges in Ex-Jugoslawien, sondern bald auch die Deserteure der Wehrmacht öffentliche Anerkennung finden mögen.

Das schwierige Erbe der Deserteure darf nicht nur museal aufbereitet werden. Manche, die es gut meinen mit den Fahnenflüchtigen der Vergangenheit, werden nicht müde zu beteuern, diese hätten nichts, aber auch gar nichts mit der Bundeswehr zu tun. Als habe die Desertion nicht in jeder Armee eine Zukunft! Gewiß doch, die Bundeswehr ist keine Wehrmacht – auch wenn sie sich des öfteren auf deren Tradition beruft. Und sie wird sich – aller Voraussicht nach – an einem Angriffskrieg nicht beteiligen. Im Grundgesetz steht der schöne apodiktische Satz: „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.“ Spätestens wenn deutsche Militäreinsätze nicht mehr nur im Konjunktiv erörtet werden, wird sich erweisen, was diese Verfassungsgarantie im Ernstfall wert ist. Man muß kein Pazifist sein, um diese Einsicht zu gewinnen: Die Desertion, aus welchen situationsbezogenen, persönlichen oder politischen Motiven auch immer in ihr Zuflucht gesucht wird, bleibt ein Stachel des Humanen gegen jeden Staat, der Kriegsdienst erzwingt – und sei es für eine gerechte Sache.

Norbert Haase/Gerhard Paul (Hrsg.): „Die anderen Soldaten. Wehrkraftzersetzung, Gehorsamsverweigerung und Fahnenflucht im Zweiten Weltkrieg“. Fischer Taschenbuch 1995, 240 Seiten, 19,90 Mark