Brasilien: „Jede Woche ein Massaker“

Die Regierung verzögert die geplante Agrarreform weiter und weiter – dafür gehen Polizei und Militärpolizei immer brutaler gegen illegale Landbesetzer vor  ■ Aus Rio de Janeiro Astrid Prange

Schon wieder ein Massaker in Brasilien. Diesmal richtet sich die Polizeigewalt nicht gegen Häftlinge oder Straßenkinder, sondern gegen Landlose. Fünf Tage nach dem brutalen Zusammenstoß zwischen Besetzern und Militärpolizisten auf der Farm Santa Elina in der Nähe der brasilianischen Stadt Colorado del Oeste an der Grenze zu Bolivien läßt sich die Wahrheit nicht mehr vertuschen: Insgesamt zwölf Menschen, neun Besetzer und drei Militärpolizisten, kamen am vergangenen Mittwoch im Morgengrauen ums Leben.

Die Menschenrechtskommission des brasilianischen Parlaments macht den Richter, der den Räumungsbefehl erteilte, für das Massaker verantwortlich. Und Luis Ignacio „Lula“ da Silva, der Vorsitzende der brasilianischen Arbeiterpartei PT, der vor Ort mit Verletzten sprach, erklärte gegenüber der taz: „Alle wurden ermordet. Das war kein Zufall, sondern geplant.“

„Der Konflikt hätte vermieden werden können, wenn wenigstens eine der beiden Seiten Kompetenz bewiesen hätte“, sagte der Bischof von Guajara-Mirim, Dom Geraldo Verdier, gegenüber der brasilianischen Tageszeitung Folha de São Paulo. Nicht nur die Polizisten hätten ihre Gewalt mißbraucht, auch die Besetzer hätten übertrieben. „Sie waren bewaffnet und campierten auf einer produktiven Farm“, kritisierte der Geistliche. Deswegen hätte sich die Landpastorale (CPT) nicht an der Aktion beteiligt.

Den Befehl zu der blutigen Räumungsaktion gab der örtliche Richter Clodner Luiz Paoletto bereits am 1. August. Vergangenen Mittwoch im Morgengrauen stürmten daraufhin 187 Militärpolizisten das Gelände und lieferten sich mit den Landarbeitern einen zweieinhalbstündigen Schußwechsel. „Nachdem wir uns ergeben hatten, trampelten die Polizisten auf uns herum und zwangen uns, angeseilt und schwerverletzt, zwanzig Kilometer zu Fuß von der Fazenda bis in die Stadt zu gehen“, erinnert sich Felipe Esvideski, der bei der Räumungsaktion ein Ohr verlor.

Der Verletzte Moacir Camargo mußte die Leichen wegschaffen. „Als ich alle Körper auf den Laster geworfen hatte, haben sie mir von hinten in den Rücken geschossen“, sagte er vor den fünf Mitgliedern der Menschenrechtskommission des brasilianischen Parlaments aus, die ihn im Krankenhaus besuchten.

Die inzwischen abgeschlossenen gerichtsmedizinischen Untersuchungen bestätigen, daß die Mehrheit der Landbesetzer mit einem Schuß in den Rücken aus nächster Nähe ermordet wurde. Der Kommandant der Militärpolizei aus dem Bundesland Rondonia, Oberst Wellington Luiz de Barros Silva, bestreitet das. „Es gab keine Exekution. Wenn jemand durch einen Rückenschuß starb, dann war es ein Bandit“, erklärte der 44jährige gegenüber der Tageszeitung Folha de São Paulo. Richter Clodner Paoletto verweigerte jeden Kommentar. Er habe die Räumung im Auftrag des Farmbesitzers sowie seines Nachbarn angeordnet, ließ er die Presse wissen.

Seit dem Amtsantritt von Brasiliens Präsident Fernando Henrique Cardoso zu Beginn des Jahres sind nach Angaben der Landpastorale 55 Menschen ums Leben gekommen und mehr als hundert Beteiligte verletzt worden. Cardoso hatte während seines Wahlkampfes versprochen, innerhalb der nächsten vier Jahre 280.000 Familien anzusiedeln. Bisher allerdings wurden dafür gerade erst drei Millionen Dollar zur Verfügung gestellt – von insgesamt einer Milliarde, die für die Agrarreform in diesem Jahr vorgesehen ist. Wenn der bisherige Ansiedlungsrhythmus beibehalten wird, können bis zum Jahresende lediglich 8.000 Landlose versorgt werden.

„Es ist unverantwortlich von der Regierung, daß sie nicht einen einzigen Finger krümmt, um die Agrarkonflikte im Land beizulegen“, empört sich PT-Chef Lula. Die rund 4,8 Millionen Landlosen müßten unverzüglich auf eine eigene Scholle umgesiedelt werden. Und der PT-Abgeordnete Nilmario Miranda, Vorsitzender der Menschenrechtskommission des brasilianischen Parlaments, warnt die Regierung: „Wenn das so weitergeht, haben wir jede Woche ein Massaker. Für Brasiliens internationales Ansehen ist das nicht gerade förderlich.“

Wie Brasiliens Militärpolizisten mit ihren weniger wohlhabenden Landsleuten umspringen, haben sie in jüngster Vergangenheit bereits eindrücklich demonstriert: Im Oktober 1992 erschossen sie im größten Gefängnis von São Paulo bei einer Meuterei 111 Häftlinge. Im Juli 1993 rächten sich Militärpolizisten für eine Provokation mit dem Mord an sieben Straßenkindern vor der „Candelaria“- Kirche mitten im Zentrum von Rio. Zwei Wochen später ein weiterer Vergeltungsakt: Für den Mord an vier Uniformierten mußten 21 unschuldige Bewohner des Armenviertels „Vigario Geral“ in Rio ihr Leben lassen.