Stimmung mit Rudi und Hansi im Bauernlümmel

taz-Serie „Ortswechsel“ (Teil 4): Viel langsamer als erwartet verändert Friedrichshain sein Gesicht. Verdrängt werden weniger die Mieter als die Gewerbetreibenden. Trotz neuer Einkaufszentren auf der Frankfurter Allee hält sich ein Schmuddelimage  ■ Von Uwe Rada

Fünf Jahre nach der Vereinigung beider Stadthälften ist Berlin noch immer eine Stadt der Ungleichzeitigkeit. Orte der rasanten Veränderungen befinden sich oft in unmittelbarer Nähe zu Orten, in denen die Zeit scheinbar stillsteht. In der Serie „Ortswechsel“ soll diesem Reibungsverhältnis nachgespürt werden, aber auch den Ängsten und Hoffnungen derer, die den Veränderungsdruck und Stillstand aus eigener Erfahrung kennen.

Der Blick trifft auf Granit. Steinern, schwer, geschäftig gibt sich das Frankfurter-Allee-Plaza mit der extravaganten Architektur des Japaners Shin Takamatsu. „Quasar“ heißt sein Bauwerk mit der markanten Eckbetonung an der Frankfurter Allee Ecke Voigtstraße, ein fremder Stern also.

Daß Großprojekte wie das Plaza mit teuren Geschäften, Boutiquen, schicken Restaurants und Nobelhotels eine neue Käuferklientel nach Friedrichshain zieht und sich die Bewohnerstruktur durch die Aufwertung der Magistrale verändert, galt noch vor geraumer Zeit als Schreckensbild, gegen das man sich zur Wehr setzen müsse. Heute weiß man es besser. Auch in der Frankfurter Allee gilt: Die Nachfrage bestimmt das Angebot. Keine Edelboutiquen sind in den „Quasar“ gezogen, sondern ein TIP-Discounter und ein Kodi- Markt. Und auch in die übergestylte Passage wollte kein Yuppie- Restaurant, sondern ein Wirtshaus namens „Bauernlümmel“. Die neue Klientel ist somit die alte: Am Abend, so verspricht es eine kreidebemalte Tafel, gibt es „Stimmung mit Rudi, Hansi und Mario“.

Reality-Investment statt noblesse oblige? „Als vor fünf Jahren die Mainzer Straße geräumt wurde“, sagt Freke Over, noch immer Hausbesetzer und mittlerweile Direktkandidat der PDS für die Landtagswahl, „haben wir alle gedacht, jetzt räumen sie auf.“ Während noch vor zwei Jahren die Eröffnung einer Burger-King-Filiale durch einen Steinhagel verhindert werden sollte oder behelfs abgebrannter Luxusschlitten dem gefürchteten Mittelstand zu Bleche gerückt werden sollte, hat das Reizwort Umstrukturierung auch in der Szene viel von seiner Bedrohlichkeit eingebüßt. „Das läuft alles sehr viel langsamer, als wir gedacht haben“, meint Over.

Daß der Slogan von Mieteraktivisten: „Wir bleibe alle“, bislang Realität geblieben ist, überrascht in der Tat. Schon kurz nach der Wende galt Friedrichshain als Investoren-Dorado, der Erwartungsdruck war enorm. Die hervorragende Verkehrsanbindung, der Hauptbahnhof und die Gegend um die Jannowitzbrücke als Entwicklungsgebiete, brachliegende Industrieflächen, Baulücken entlang der Frankfurter Allee schienen geradezu ideale Bedingungen für Investoren zu sein. Doch die weichen Standortfaktoren haben die vermeintlich „harten“ mittlerweile in den Schatten gestellt. Im einkommensschwächsten der Berliner Bezirke fehlt es nicht nur an Kaufkraft, sondern auch am Ruf. „Der Bezirk hat sein Image noch immer nicht gefunden“, räumt die Friedrichshainer Baustadträtin Martina Albinus (PDS) ein. Im Klartext: Der Arbeiter- und Arbeitslosenbezirk Friedrichshain ist ein Schmuddelbezirk ohne Flair und kulturelles Ambiente. Viele wollen weg, und die, die bleiben, sind mit sich selbst beschäftigt.

Daß nicht die Investoren den Kiez erschrecken, sondern die Bewohner zuweilen die Investoren, zeigt sich vor allem auf dem Wohnungsmarkt. Während in Prenzlauer Berg und den Westberliner Innenstadtbezirken die freifinanzierte Altbaumodernisierung die Mieten in die Höhe treibt, sind die Privatmodernisierer in Friedrichshain, so Baustadträtin Albinus, noch immer eine Randerscheinung. „Wer sich eine Miete von 20 Mark pro Quadratmeter leisten kann“, sagt ein ehemaliger Hausbesetzer, „zieht überall hin, nur nicht nach Friedrichshain.“

Daß um eine Friedrichshainer Straße einmal eine Koalition platzen konnte, scheint heute eine Anekdote aus einer vergangenen Zeit zu sein. Rechts und links der Warschauer Straße ist nichts mehr spektakulär. Selbst die Neumieter und Ex-Hausbesetzer kümmern sich mehr um den autonomen Knigge als die große Politik. Letztere bleibt denn auch dem Bezirksamt Friedrichshain überlassen, und das ist besser als sein Ruf. So wurden erst vor kurzem im Sanierungsgebiet Samariterviertel die Mieten auf 8,20 Mark pro Quadratmeter begrenzt. Auch in den beiden anderen Sanierungsgebieten, Warschauer Straße und Traveplatz/Ostkreuz, sollen Mietobergrenzen eingeführt werden. Außerdem, so beschloß es das Bezirksamt, wird das ansonsten nur bei öffentlich geförderter Modernisierung angewandte Sozialplanverfahren in Friedrichshain auch den Betroffenen einer Privatmodernisierung zugute kommen.

Im Sanierungsgebiet Traveplatz/Ostkreuz etwa, so hat es die Mieterberatungsgesellschaft ASUM festgestellt, sei die Bevölkerung stabil geblieben, das Gebiet sei für Investoren wenig attraktiv. Mittlerweile wohnen im Gebiet südlich der Scharnweberstraße viele Wohnungsbesetzer. Über 5.000 Wohnungen stehen, sechs Jahre nach dem Mauerfall, im Bezirk noch immer leer. „Zwei Drittel aller Wohnungen, die bei der Wohnungsbaugesellschaft frei werden“, weiß Baustadträtin Albinus, „werden nicht weitervermietet.“ Der Grund: Kosten für Instandsetzung in Größenordnungen von oft über 10.000 Mark. Um so unverständlicher ist es daher, daß sich die Wohnungsbaugesellschaft Friedrichshain (WBF) bei Räumungsklagen und Zwangsräumungen besonders hervortut. 242 Mietparteien wurden im vergangenen Jahr exmittiert, den gesamten Schuldenberg gibt die WBF mit 8,7 Millionen Mark an.

„Die größten Veränderungen“, meint Besetzer und PDS-Aktivist Freke Over, werden auf den Bezirk erst noch zukommen. Vor allem die Dienstleistungszentren am Ostkreuz und am Hauptbahnhof sowie die Entwicklungsgebiete Rummelsburger Bucht und Alter Schlachthof drohen den Verwertungsdruck auch anderswo zu erhöhen. Daß Großprojekte sich zwar weniger auf die Wohnungs-, dafür aber um so mehr auf die Gewerbemieten preistreibend wirken, bekommen insbesondere die Einzelhändler an der Frankfurter Allee zu spüren. Zwischen dem Frankfurter-Allee-Plaza und dem Ringbahn-Center sind die Forderungen oftmals auf 90 Mark pro Quadratmeter gestiegen. Für viele bedeutet das das Aus, meint der für Gewerbetreibende im Bezirksamt zuständige Tilo Tragsdorf vom „Büro für Wirtschafts- und Projektberatung“ (BWP). Ein „Massensterben kleiner Läden“ habe bislang aber noch nicht stattgefunden. Der Grund: Obwohl die Zahl der Gewerbetreibenden von 2.000 nach der Wende auf nunmehr 9.000 angestiegen ist, gilt Friedrichshain statistisch mit Einzelhandelsflächen noch immer als unterversorgt.

Ebenfalls statistisch gesehen wird im Bezirk mit seinen 70.000 Einwohnern freilich soviel Bruttogeschoßfläche an Büroraum gebaut wie sonst nur in Mitte, Tiergarten und Charlottenburg. Namentlich auf der Frankfurter Allee wird investiert, als gelte es auch neuerdings den Plan überzuerfüllen: die Allee-Passage Ecke Gabelsberger Straße mit 31.000 qm Bruttogeschoßfläche, das Plaza mit 49.000 qm BGF, das klotzhäßliche, bunkerähnliche Ring-Center am S-Bahn-Ring, das im Oktober öffnet, mit 33.000 Quadratmeter sowie der in Planung befindliche Büroturm östlich der Bahntrasse mit 45.000 qm. 38 größere Büro- und Geschäftshausprojekte sind, trotz des rapiden Preisverfalls und wachsender Leerstände, in Friedrichshain fertiggestellt bzw. in Planung.

Dem Bezirk droht damit ein Büroflächenleerstand in gigantischem Ausmaß. Doch das nimmt man im Bezirksamt gerne in Kauf: „Die Frankfurter Allee ist die erste feriggestellte Einkaufsstraße in Ostberlin“, freut sich Tilo Tragsdorf. Auch Baustadträtin Martina Albinus setzt auf die Stadtentwicklung mit privatem Kapital: „Im Gegensatz zu anderen Bezirken“, sagt sie stolz, „gibt es in Friedrichshain ein entscheidungsfreudiges Bezirksamt und ein investorenfreundliches Klima.“

Dennoch will man möglichen negativen Entwicklungen entgegenarbeiten. Insbesondere in den drei Sanierungsgebieten ist Tilo Tragsdorf für die Friedrichshainer Gewerbetreibenden aktiv. Das Zauberwort heißt „Gewerbeflächenmanagement“, ein Novum in Berlin. Darunter ist zum einen der Neubau subventionierter Gewerbeflächen wie am Comeniusplatz zu verstehen als auch die Unterstützung der Gewerbetreibenden gegenüber den Hauseigentümern. Wenn ein Haus mit öffentlichen Mitteln saniert wird, geht Tragsdorf auf den Eigentümer zu und fragt, was mit den Gewerbeflächen wird. „Wenn der dann sagt, da soll ein Bäcker für 50 Mark rein“, meint Tragsdorf, „dann sage ich, Bäcker ist gut, aber 50 Mark geht nicht.“ Der Druck, den der Bezirk hat, ist das Sanierungsrecht: Jede Baumaßnahme, auch im Gewerbebereich, muß auf die Einhaltung der Sanierungsziele geprüft werden und kann im Zweifel verweigert werden. Vor allem im Sanierungsgebiet Warschauer Straße soll künftig, so sieht es das Bezirksamt vor, ein Mietrecht „mit entsprechendem Kündigungsschutz und einer Begrenzung der Mieten geschaffen werden“.

Die größte Gefahr für Friedrichshain, ist auch Freke Over überzeugt, droht nicht von innen, sondern von den Rändern. Doch selbst an der Rummelsburger Bucht, einst als Nobelwohnort für die Olympioniken im Jahre 2000 gedacht und nun als städtisches Wohnen und Arbeiten am Wasser gepriesen, will außer der Veba bislang niemand investieren. Kein Wunder: Das ohnehin schon durch die S-Bahn-Trasse von der Stadt abgeschnittene Gebiet soll nach dem Willen des Senats künftig durch die überirdische und sechsspurige Verlängerung der A 100 sowie einen Hochhauskorridor die Rummelsburger Bucht zur „Jwd- Lage“ degradiert werden. Keine günstigen Aussichten für Investoren. Freke Over jedenfalls, der seit geraumer Zeit mit Freunden in einem besetzten Haus auf der Stralauer Halbinsel wohnt, freut sich über soviel Ungereimtheiten. „Friedrichshain ist noch immer ein Bezirk im Umbruch“, sagt er, und das, so darf man ihm getrost unterstellen, soll wohl auch so bleiben.

Friedrichshain ist noch immer ein Bezirk, der eher weiß, was er nicht ist. „Ein Szeneviertel wie im Prenzlauer Berg wird hier nie entstehen“, ist sich die Baustadträtin sicher. Was bei Martina Albinus wie Bedauern klingt, ist für die anderen die Garantie dafür, daß der Bezirk noch lange so bleibt, wie er ist. Da hilft nicht einmal die Werbekampagne des Wirtschaftsstadtrats. Der hat nämlich in einer Broschüre sämtliche Gastronomien aufgezählt und in vier Rubriken aufgeteilt: „Musikcafé, Restaurant, Bierstube“ und – Cafés. Die heißen dann nicht „Bauernlümmel“, sondern: „Café Traudel“ oder „Manuela“.

Nächsten Donnerstag: Prenzlberg