Schnupftabak weht Haß herbei

■ Schloß Wiepersdorf zu Gast in der „literaturWERKstatt“

Hundert Kilometer Handelsstraße von Berlin nach Leipzig, im Niederen Fläming: Hier baut die Landwirtschaft auf Sand. Bettina im Gutshaus der Arnims führte den Haushalt – ihre Kids in Wiepersdorf „laufen in Kitteln, deren Zeug sie selbst webt“, erstaunt sich Wilhelm Grimm an seinen Bruder. Sarah Kirsch setzt noch eins drauf – ihre Wiepersdorfer Gedichte zu Anfang unsere siebziger Jahre beschwören die Berliner Romantik.

Das Schloß hieß inzwischen Arbeits- und Erholungsheim „Bettina von Arnim“ und überwinterte die Wende in der Stiftung Kulturfonds. Heute ist es eine der renommiertesten Künstlerschmieden Deutschlands. Nicht immer aber bleiben die Gäste. Manchen treiben Schwermut und Gruppendynamik, wie schon Bettina von Arnim, nach drei Monaten zurück in die Stadt. Wiepersdorf ist etwas für reifere Geister. Brigitte Burmeister, sagt man, hat sich da wohlgefühlt. „Eine gottverdammte Gegend“, freut sich auch die gebürtige Münchnerin Doris Sossenheimer. Die Direktorin des heutigen Künstlerhauses Schloß Wiepersdorf, Hotel für bis zu 70 Stipendiaten im Jahr, verkauft den märkischen Topos der Einkehr in bodenständigen Tropen. Wer sich für fünf Monate Vollpension plus 1.500 Mark auf die Hand in diese Gegend bei den Kasernen von Jüterbog verdingt, kennt spätestens nach der Lektüre des Gästebuchs das Figurenensemble der „Wendung nach innen“.

Um für sich zu werben, zieht Wiepersdorf Mitte August nach Berlin. „Drei Jahre Künstlerhaus Schloß Wiepersdorf“ heißt eine Veranstaltungsreihe, die Doris Sossenheimer mit ihren Stipendiaten in der Pankower „literaturWERKstatt“ durchführt; am vergangenen Mittwochabend lasen Lars Gustafsson – derzeit Literaturjuror der Stiftung und Reinhard Lettau, einer seiner Berufenen. Die Stimmung ist entspannt. Auch der Majakowskiring bietet mancherlei Romantik. Zwischen Seerosen und Pappreptil dümpelt ein Plastikfisch, und Lars Gustafsson freut sich diebisch, nach dreißig Jahren seinen alten Freund Reinhard mal wieder zu sehen. „Ist er nicht zum Piepen“, bestätigt Frau Sossenheimer, und Gustafsson liest aus seinem autobiographischen „Palast der Erinnerungen“, der im Frühjahr auf deutsch erscheinen wird.

Zigarrenqualm – Topos des Gothic – hängt in den Tapeten seines Erinnerungsgebäudes und ruft das Entsetzen früher Kindheit zurück: Zeit des „Wartens, daß der Schatten auf dem Teppich weiterrückt“. Schnupftabak kommt zum Vergleich und weht in einer kühlen Brise die Erinnerung an ersten Haß herüber. Und wo die Duftmarken versagen, steht Benjamin, sein Fünfeinhalbjähriger, bereit, dem Vater in die Erinnerung zu helfen. Schönes Erzählen eines Neunundfünfzigjährigen, der man sich hinzugeben leicht bereit ist.

Reinhard Lettau hingegen ist ein Klotz, der nicht diskutieren kann. Er sondert Gemeinplätze ab und spricht davon, daß man sich beim Schreiben nicht auch noch auf Bedeutung konzentrieren kann – „ich weiß nicht, wie es dir geht, Lars.“ Hans Georg Soldat, den jovialen Dicken in der Mitte, der als Hauptjuror von Wiepersdorf den Moderator macht, quält der Dichter eins aufs andere Mal mit dünnen Anspielungen: „Ich habe gerne mit Soldaten gespielt – in Ihrer Gegenwart darf ich das ja sagen“, und auch sonst klebt Lettau, wie ihm schon Genosse Dutschke vorwarf, „an der Erscheinung“.

Seine Beobachtungen notiert der Wahlamerikaner im Pidgin- Englisch als „infinitivartige Bewegungen auf dem Blatt“. Überall am Schreibtisch liegen diese Zettel rum, damit sie ihm – im Deutschen – zu Sprache würden. Dem ist – bei der Lektüre aus „Flucht vor den Gästen“ – nicht leicht zuzuhören. Bei jedem Komma sackt die Stimme auf den Punkt und zerhackt wie Regenwürmer die krude Logik seiner Sätze. Man sitzt da und graust sich, ohne zu verstehen. Die Mnemotechnik beherrscht er darum besser als ihr Theoretiker, Lars Gustafsson. Dessen Kunst der Erinnerung ist dem Gedächtnis Lettauscher Orte idealistisch nachgeordnet. Vor Del Dios und Escondito beispielsweise, in den „abschießenden Kurven“, spiegelt sich die Geschichte mit dem Hund: „Dawn, die die Sonnenblende heruntergeklappt hat und im Spiegel eine Nadel im Haar befestigt, erzählt, wie der Hund aufs Sofa sprang, das nicht mehr da war, so gewöhnt war er ans Sofa, also man erzählt einander, was man schon weiß.“ Fritz von Klinggräff

Nächste Lesungen des Künstlerhaus Schloß Wiepersdorf: 22. 8.: Jayne-Ann Igel und Johannes Jansen; 24. 8.: Wilhelm Genazino und Lioba Happel; 29. 8.: Sandra Kellein und Nicole Müller; 31. 8.: Elfriede Czurda und Ginka Steinwachs; 1. 9.: Marcel Beyer und Ilija Trojanow.